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Keine Zeit zum Weiterbilden?!

Zeitliche Herausforderungen für die Teilhabe an politischer Erwachsenenbildung

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Der Originalbeitrag ist ursprünglich im Journal für Politische Bildung in der Ausgabe 4/2024 erschienen.


Die Rolle von Zeit in der politischen Erwachsenenbildung ist vielschichtig und wirkt sich vor dem  Hintergrund der ungleichen Verteilung von Zeit auf die Weiterbildungsbeteiligung aus, genauso wie die Art und Weise, wie Lernzeiten strukturiert und organisiert sind. Gleichzeitig reaktualisieren Krisen wie die Pandemie oder geopolitische Konflikte die Bedeutung von politischer Erwachsenenbildung. Es bedarf daher einer verbesserten Bildungspolitik, die zeitliche Barrieren abbaut und Teilhabe erleichtert.

In einer Welt, die zunehmend von Geschwindigkeit und Effizienz bestimmt wird („Beschleunigungsgesellschaft“ (Rosa 2005), „vergesellschaftete Zeit“ (Schmidt-Lauff 2017)), wird die Betrachtung von Zeit häufig auf ihre Eigenschaft als Ressource reduziert. Es scheint immer wieder so, als sei es bloß eine Frage von effektivem Zeitmanagement, ob sich Bildungsvorhaben realisieren lassen oder nicht. Die Bedeutung von Lern(zeit)erfahrungen der Individuen, die ebenfalls einen maßgeblichen Ein- fluss auf (zukünftige) Weiterbildungsentscheidungen hat, kommt dabei nicht selten zu kurz. Teilhabe an Erwachsenenbildung ist nicht nur ein gesellschaftliches Phänomen, sondern auch ein individuelles Bildungsgeschehen, das eng mit sozialen Ungleichheiten verknüpft ist. Neue Zeitformate und -strukturen werden geschaffen, um – so das Versprechen – Weiterbildung jederzeit an jedem Ort möglich zu machen. Die Verantwortung für die Lernzeitorganisation wird dabei aber gern dem Individuum überlassen. Unterstützende Strukturen (von Tarif- und Betriebsvereinbarungen bis zur Kinderbetreuung) zur Alltagsintegration stehen möglicherweise gar nicht zur Verfügung oder werden nicht ausreichend kultiviert und kommuniziert (siehe beispielsweise den Bildungsurlaub).

NEUE ZEITFORMATE IN DER ERWACHSENENBILDUNG VERSPRECHEN WEITERBILDUNGSMÖGLICHKEITEN ZU JEDER ZEIT UND AN JEDEM ORT.

Weiterbildung in Deutschland ist selektiv und das in mindestens zweifacher Weise: „Doppelte Selektivität” (Bracker/Faulstich 2014) beschreibt einerseits die Selektion durch das Bildungssystem, das bestimmte Gruppen bevorzugt, und andererseits die Selektion durch die Individuen selbst, die aufgrund ihres sozialen Hintergrunds und ihrer Ressourcen eine Teilnahme an Weiterbildung eher erwägen oder aber eher nicht in Betracht ziehen. Wesentliche Strukturkategorie in diesem Kontinuum der Ungleichheit ist die schon erwähnte Zeit. 

Was ist aber die Zeit? Und welche Bedeutung hat sie für die politische Erwachsenenbildung? Diese Fragen möchte ich anhand folgender Punkte diskutieren: Zeit als Ressource und Zeit als Teil menschlicher Lernerfahrungen, denn diese Erfahrungen sind ebenso essenziell für das Lernen im Erwachsenenalter wie die Frage nach dem ‚Zeitbudget‘ einer Person. Darauf aufbauend soll die spezifische Bedeutung von Zeit für die politische Erwachsenenbildung betrachtet werden. Zeit ist nicht, wie anfangs angedeutet, als rein physikalische Einheit zu verstehen, ebenso wenig als linearer Prozess, sondern viel mehr als soziale Praxis, durch die wir uns in der Zeit zu Zeit verhalten, sie gestalten, erfahren und verändern.

Zeit als Ressource

Auch wenn für alle Menschen der Tag 24 Stunden hat und die Woche sieben Tage, ist Zeit ungleich verteilt, denn unser sozioökonomischer Status bestimmt, wieviel Zeit wir zur freien Verfügung haben (vgl. Wotschack 2012: 25 f.). Care-Arbeit lässt sich beispielsweise mit einem entsprechenden Einkommen auslagern und damit verschafft man – oder in den meisten Fällen frau – sich mehr Zeit.

ZEIT IST EINE SOZIALE PRAXIS, ALSO MEHR ALS EINE PHYSIKA LISCHE EINHEIT UND EIN LINEARER PROZESS.

Die am häufigsten angeführte Begründung für die Nicht-Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen ist das Fehlen von Zeit, wie statistische Daten zeigen. „Meine familiären Verpflichtungen haben mir für Weiterbildung keine Zeit gelassen“, ist mit 15 % der am häufigsten genannte Grund für die Nicht- Teilnahme an einer Weiterbildungsaktivität innerhalb der letzten 12 Monate (vgl. BMBF 2024: 74). Weiterbildungsbestrebungen müssen im Erwachsenenalter mit einer „Fülle alltäglicher Einzelverpflichtungen“ synchronisiert werden und erfordern von den Teilnehmenden ein hohes Maß an „temporaler Strukturierungsleistung“ (Schäffter 1993: 449). Obwohl die Erwachsenenbildung gemessen an der Lebensspanne der größte Bildungssektor in Deutschland ist, ist die Teilnahme an diesem im Gegensatz zur Schulzeit kaum reguliert bzw. rechtlich unterstützt. Dabei ist festzuhalten, dass es sich hierbei um ein grundlegendes Prinzip der Erwachsenenbildung handelt, welches ein hohes Maß an Möglichkeiten, Heterogenität und Pluralität gewährleistet. Aber gleichzeitig fehlt es den Teilnahmewilligen an explizit ausgewiesenen und rechtlich verankerten Lernzeitfenstern, sodass Lernen im Erwachsenenalter zwischen beruflichen Verpflichtungen, familiären Aufgaben, individuellen Bedürfnissen und sozialen Erwartungen balanciert werden muss.

Zeit als Teil menschlicher Lernerfahrungen

„Wie Menschen Zeit auslegen bzw. erleben und darin zugleich rekursiv Zeitlichkeiten schaffen, ist epochal gebunden“ (Schmidt-Lauff 2012: 34). Der Zeitgeist der neoliberalen Kosten-Nutzen-Logik macht selbstverständlich auch vor der politischen Erwachsenenbildung nicht halt (dazu kritisch Lösch 2008). „Im Begreifen von Bildung und Lernen als anthropogenes Konstrukt ist pädagogisch verantwortungsvoll und kontinuierlich danach zu fragen, wie Lernräume und -zeiten entstehen, wahrgenommen und ausgedrückt werden können“ (Schmidt-Lauff 2012: 36). Ein Blick in die Empirie zeigt, dass Lernen Zeit braucht und diese Zeit auch gewünscht und wertgeschätzt wird (siehe u.a. Pabst/Zeuner 2021). Im jüngst abgeschlossenen Forschungsprojekt „Zeit und Lernen im Erwachsenenalter“, an dem ich beteiligt war, wurden unterschiedliche Bildungssettings (online, Blockwoche, Tages- und Abendkurs) in den Bereichen der beruflichen, politischen und kulturellen Erwachsenenbildung untersucht. In Interviews mit Teilnehmer*innen zeigen sich u. a. spannende Unterschiede im Zusammenhang mit den Themen, den damit einhergehenden individuellen zeitlichen Erfahrungen der Kursteilnehmer*innen und der kollektiven zeitlichen Ausgestaltung der Kurse im Zusammenspiel von Zeitinstitutionen, didaktischer Leitung und Kursteilnehmer*innen.

In unseren Beobachtungen lässt sich nachzeichnen, dass in den Veranstaltungen der beruflichen Bildung ein sehr dichtes, auf Effizienz ausgerichtetes Zeitmuster vorherrscht, das zeitlich stark durch das didaktische Handeln der Kursleitung strukturiert ist, während die Zeitlichkeit in Kursen der politischen Erwachsenenbildung durch die gemeinsam produzierte Zeit bedingt ist. Das heißt konkret, dass, ganz im Sinne des mündigen Subjekts, die zeitliche Gestaltung der Kurse sehr stark an den Bedürfnissen der Teilnehmenden orientiert ist. Man kann in unseren Beobachtungen bezogen auf die zeitliche Struktur ein Oszillieren zwischen Kursleitung und Teilnehmenden feststellen. Die Kursleitung könnte man als Impulsgeberin verstehen und die Teilnehmenden als Impulsnehmende, die dann ihren Bedürfnissen entsprechend zusammen als Kollektiv die Kurszeit gestalten. Wie lange wird über welches Thema diskutiert? Wann sind Pausen nötig? Wann möchte man das Geschehen lieber nicht unterbrechen, obwohl auf dem Zeitplan formal eine Pause geplant ist? Dieses gemeinsame Zeitgestalten ist jedoch als Prozess zu verstehen, der unterschiedliche Phasen durchläuft und stets von der Zeitsensibilität der kursleitenden  Weiterbildner*innen profitiert.

Daher spielen besonders Bildungsformate, denen das gemeinsame Zeitverbringen immanent ist, auch mit Blick auf die politische Erwachsenenbildung eine zentrale Rolle. Die Bildungsfreistellung (Bildungsurlaub) ist beispielsweise ein Zeitformat, welches es explizit ermöglicht aus dem Alltag auszutreten, sich ungestört dem Lerngeschehen zu widmen und so diesen Prozess zeitlich entlastet erleben zu können. Damit sind diese Veranstaltungen insbesondere auch für jene attraktiv, die z. B. aufgrund von Schichtarbeit und/oder Care- Arbeit nicht die Möglichkeit haben, ein kontinuierliches Lernen über lange Zeit zu organisieren, wie beispielweise in fortlaufenden Tages- und Abendkursen.

Gesellschaftliche Verantwortung und Perspektiven

Die Bedeutung der politischen Bildung, in diesem Fall speziell die politische Erwachsenenbildung wird immer wieder betont, doch in der Praxis muss sie stets um Ressourcen kämpfen und steht damit auch aus Zeitperspektive unter einem enormen Anpassungsdruck, sich einer Kosten-Nutzen-Logik zu unterwerfen.

Das führt nicht selten zu immer kürzeren Formaten, wie an Bildungsfreistellungen zu sehen ist, die häufig drei statt fünf Tage laufen. Man findet in den Programmen nur noch selten Veranstaltungen die über eine Zeitspanne von mehr als fünf Tagen stattfinden.

FORMATE, IN DENEN DAS GEMEINSAME ZEITVERBRINGEN BETONT WIRD, SIND IN DER POLITISCHEN ERWACHSENENBILDUNG ELEMENTAR.

Empirisch lässt sich aber zeigen, dass die Bildungsformate, die ein gewisses Maß an Dauer in sich tragen, für Lernprozesse von immenser Bedeutung sind. Michael Görtler (2016: 17 f.) schreibt angelehnt an Andreas Dörpinghaus und Ina Katharina Uphoff, dass es einer Verzögerung“ bedarf. Damit ist gemeint, dass ohne ein Innehalten, ohne ein Warten, ohne Reflexion und sich dafür Zeit nehmen zu können: „Der Lernprozess […] so seinen offenen Charakter, sein Potenzial, den Perspektivwechsel zu fördern [verliert]“. Es bedarf also einer Politik, die die Bedeutung von politischer Erwachsenenbildung nicht nur anerkennt, sondern eben auch entsprechende (Zeit) Strukturen fördert. Dies schließt die Förderung von Bildungsurlaub und die bessere finanzielle Unterstützung von politischer (Erwachsenen)Bildung ein.

MAN FINDET IN DEN PROGRAMMEN NUR NOCH SELTEN VERANSTALTUNGEN DIE ÜBER EINE ZEITSPANNE VON MEHR ALS FÜNF TAGEN STATTFINDEN.

Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Strukturen bestehen, die unter zeitlichen Aspekten Teilhabe an Erwachsenenbildung ermöglichen, sei es die Bildungsfreistellung, die als einziges explizites Lernzeitfenster existiert (wenigstens in 14 von 16 Bundesländern) und damit das ‚Zeitnehmen zum Lernen‘ vereinfacht, oder weil sie eben auch eine entlastende, musische, spannende Zeiterfahrung für die Teilnehmer*innen sein kann, was sich wiederum auf zukünftige Weiterbildungsentscheidungen auswirkt. Aber es gehören ebenso Kurse dazu, die organsiert als Tages- und Abendkurse, teils über Jahre mit gleicher Teilnehmendenschaft fortlaufen und so einen Gegenpol zur Tendenz von kurz und schnell darstellen. 

Für die politische Erwachsenenbildung ist es erstrebenswert, sich von Gegenwartsdiktaten zum Umgang mit Zeit zu emanzipieren und für Zeitformate und Strukturen zu kämpfen, in denen sich das Lernen und im besten Fall Bildung entfalten kann. Und das braucht eben Zeit.

weitere Texte Journal für politische Bildung.

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Über die Autorin:

Hannah Hassinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Weiterbildung und lebenslanges Lernen an der Helmut Schmidt Universität in Hamburg. Sie forscht u. a. zu Zeit und Lernen von Erwachsenen und geht dabei Fragen von biographischen Aspekten und sozialer Ungleichheit nach.

 


Literatur

BMBF (2024): Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2022. Ergebnisse des Adult Education Survey – AESTrendbericht.
Bracker, Rosa/Faulstich, Peter (2014): Weiterbildungsbeteiligung – Bedingungen und Begründungen doppelter Selektivität. In: Bauer, Ulrich/Bolder, Axel/ Bremer, Helmut/Dobischat, Rolf/Kutscha, Günter (Hg.): Expansive Bildungspolitik – Expansive Bildung? Wiesbaden, S. 335–356.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)/ Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Wissen teilen. Zukunft gestalten. Zusammen wachsen. Nationale Weiterbildungsstrategie. Berlin. Online abrufbar unter https://www.bibb.de/dokumente/pdf/a42_190611_BMAS_Strategiepapier.pdf (Zugriff vom 29.7.2024).
Görtler, Michael (2016): Politische Erwachsenenbildung und Zeit. In: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung – Report 39, Heft 1, S. 9-25.
Lösch, Bettina (2008): Politische Bildung in Zeiten neoliberaler Politik: Anpassung oder Denken in Alternativen? In: Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (Hg.): Neoliberalismus: Analysen und Alternativen. Wiesbaden, S. 335–354.
Pabst, Antje/Zeuner, Christine (2021): Befunde – Standpunkte – Problemstellungen: Impulse zu Zeit und Bildung. Eine Einführung. In: dies. (Hg.): „Fünf Tage sind einfach viel zu wenig.“: Bildungszeit und Bildungsfreistellung in der Diskussion. Frankfurt/M.
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/M.
Schäffter, Ortfried (1993): Die Temporalität von Erwachsenenbildung. Überlegungen zu einer zeittheoretischen Rekonstruktion des Weiterbildungssystems. In: Zeitschrift für Pädagogik 39, Heft 3, S. 443–462.
Schmidt-Lauff, Sabine (2012): Grundüberlegungen zu Zeit und Bildung. In: dies. (Hg.): Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung. Münster, S. 11–60.
Schmidt-Lauff, Sabine (2017): Vergesellschaftete Zeit: Überlegungen zu Bildung heute. In: Journal für politische Bildung, Heft 2, S. 10–16.
Wotschack, Philip (2012): Keine Zeit für die Auszeit.
In: Soziale Welt 63, Heft 1, S. 25–44.

 

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