15.1.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 14/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Effizientere Entscheidungsfindung in der Sozialpolitik: Ermittlung möglicher Bereiche für einen verstärkten Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit“

(COM(2019) 186 final)

(2020/C 14/13)

Berichterstatter: Christian BÄUMLER

Befassung

Europäische Kommission, 3.6.2019

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

10.9.2019

Verabschiedung auf der Plenartagung

25.9.2019

Plenartagung Nr.

546

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

83/32/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass es in Zeiten des raschen Wandels entscheidend ist, dass die EU zusammen mit ihren Mitgliedstaaten in der Lage ist, entsprechend anerkannter Kompetenzen in allen relevanten Politikbereichen effiziente und wirksame politische Maßnahmen zu ergreifen. Diese Vorgehensweise sollte eine entsprechende Reflexion des Handlungsbedarfs auf europäischer Ebene unter angemessener Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes umfassen.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Einbindung des Europäischen Parlaments auf hoher Ebene in das Gesetzgebungsverfahren im Einklang mit den Bestimmungen des Vertrags — insbesondere im sozialpolitischen Bereich — wichtig ist, da sozialpolitische Fragestellungen immer auch den Zusammenhalt der Gesellschaft und eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft entsprechend der vertraglich festgeschriebenen Ziele (Artikel 3 EUV) berühren.

1.3.

Vor dem Hintergrund, dass sich der EWSA bereits in früheren Stellungnahmen (1) für eine Überprüfung von Einstimmigkeitserfordernissen bei der EU ausgesprochen hat und dies kürzlich insbesondere auch im Bereich der Steuerpolitik wiederholt hat (2), begrüßt er, dass die Kommission die Diskussion hinsichtlich bestehender Schranken in der Rechtssetzung vorantreibt und mit dieser Mitteilung auch im Bereich der Sozialpolitik die Diskussion zu Möglichkeiten der Ausweitung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit eröffnet hat. Gleichzeitig betont der EWSA, dass die Rolle der EU im sozialpolitischen Bereich laut Vertrag ausschließlich auf die Unterstützung und Ergänzung der Tätigkeiten der Mitgliedstaaten in den in Artikel 153 Absatz 1 AEUV definierten Bereichen beschränkt ist. Dies spiegelt die Vielfalt der nationalen Sozialsysteme und Traditionen wider und impliziert, dass die Mitgliedstaaten bei der Konzipierung und Umsetzung ihrer sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Führungsrolle spielen. Das Verfahren mit qualifizierter Mehrheit basiert auf einer Kultur des Kompromisses.

1.4.

Für den EWSA steht außer Frage, dass die EU auch bei Anwendung des Instruments der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit dem Subsidiaritätsgrundsatz verpflichtet bleibt und sich in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, auf Bereiche konzentriert, in denen gemeinsame Ziele nicht wirksamer auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene erreicht werden können. Ebensolches gilt für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wonach Inhalt und Form der Maßnahmen der EU nicht über die Ziele der Verträge hinausgehen dürfen.

1.5.

Artikel 151 AEUV schreibt als Ziel der Sozialpolitik „die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen […] auf dem Wege des Fortschrittes“ fest. Der EWSA betont, dass dies nach Artikel 153 Absatz 2 AEUV mit Richtlinien über Mindestregelungen unter Berücksichtigung der nationalen Bedingungen angestrengt wird und diese der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen nicht entgegenstehen dürfen. Er betont weiter, dass entsprechend Artikel 153 Absatz 4 AEUV das Recht der Mitgliedstaaten, sich bei der Umsetzung einem höheren nationalen Schutzniveau verpflichtet zu fühlen, ebenso wie die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundsätze ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, — gleichgültig welches Regime der Beschlussfassung gilt — nicht beeinträchtigt werden darf.

1.6.

Der EWSA hebt hervor, dass die auf EU-Ebene umgesetzten Vereinbarungen der Sozialpartner einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des sozialpolitischen Besitzstands der EU leisten. Im Lichte der Debatte über den möglichen Übergang vom Einstimmigkeitsverfahren zum Verfahren mit qualifizierter Mehrheit fordert er Garantien für die weitere umfassende Einbeziehung der Sozialpartner im Bereich der sozialpolitischen Rechtsetzung und der Politikgestaltung sowie die Wahrung ihrer Autonomie bei der Umsetzung und eventuellen Überarbeitung ihrer autonomen Vereinbarungen.

1.7.

Der EWSA stellt fest, dass es derzeit in ein und denselben Politikbereichen Beschlussfassungen mit Einstimmigkeit und mit qualifizierter Mehrheit gibt. Dies führt zur Ungleichheit bei der Entwicklung sozialer Standards und Lücken des sozialen Schutzes. Der EWSA befürwortet deshalb jedenfalls für die Rechtsetzung im Bereich der Nichtdiskriminierung sowie für Empfehlungen zur sozialen Sicherheit und zum Schutz der Arbeitnehmer den vollständigen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit.

1.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass die EU Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses wie beispielsweise von schwangeren Frauen oder Teilzeitbeschäftigten entwickelt hat. Dies spricht dafür, europaweit ein Minimum an einheitlichen Verfahrens- und Schutzrechten zu garantieren und zum Verfahren mit qualifizierter Mehrheit überzugehen.

1.9.

Der EWSA betont, dass die Vertretung und kollektive Wahrnehmung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft, die Erhaltung und Schaffung guter Arbeitsplätze und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der EU sind. Die EU muss auch hier — so sachlich geboten — überprüfen, inwiefern über das Verfahren mit qualifizierter Mehrheit die Möglichkeit erweitert werden kann, zukunftsweisend die Sozialpartnerschaft weiter zu entwickeln.

1.10.

Der EWSA empfiehlt bei den Beschäftigungsbedingungen von Staatsangehörigen aus Drittstaaten, die sich rechtmäßig in der EU aufhalten, den Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, um Ungleichbehandlungen zu vermeiden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

1.11.

Im Lichte der laufenden Debatte über den Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit stimmt der EWSA in den Fällen, in denen die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zur Anwendung kommt, den Erwägungen der Kommission bezüglich einer Entscheidung für die allgemeine Überleitungsklausel in Artikel 48 Absatz 7 EUV zu, da dieser Weg sowohl den einstimmigen Beschluss des Europäischen Rats als auch die Unterstützung aller nationalen Parlamente und die Zustimmung des Europäischen Parlaments voraussetzt, womit eine breite demokratische Legitimation gegeben wäre.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass die EU und all ihre Mitgliedstaaten gemeinsamen Herausforderungen hinsichtlich der Auswirkungen neuer Technologien, des zunehmenden Wettbewerbsdrucks in der globalisierten Wirtschaft, neuer Arbeitsformen und der demografischen Entwicklung gegenüberstehen. Um das europäische Sozialmodell für künftige Generationen zu erhalten und weiterzuentwickeln, sind Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene in einer Vielzahl von Politikbereichen — entsprechend anerkannter Kompetenzen — erforderlich. Maßnahmen zur Stärkung des Zusammenhalts der Gesellschaft und gegen Diskriminierung sind in diesem Rahmen dringend erforderlich.

2.2.

Der EWSA betont, dass es in Zeiten des raschen Wandels entscheidend ist, dass die EU zusammen mit ihren Mitgliedstaaten in der Lage ist, effiziente und wirksame politische Maßnahmen zu ergreifen. Dies sollte eine angemessene Reflexion des Handlungsbedarfs und -niveaus unter angemessener Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, der Wahl geeigneter Instrumente sowie effizienter Entscheidungsprozesse umfassen, durch die die EU nationale Politiken unterstützen und ergänzen kann. Dabei sollen die Auswirkungen auf die Wirtschaft, die öffentlichen Finanzen und die Rolle der Sozialpartner in den einzelnen Mitgliedstaaten eingehend analysiert werden. Alle Mitgliedstaaten müssen jederzeit ausreichende Möglichkeiten haben, sich am Entscheidungsprozess zu beteiligen. Gemeinsames Ziel sollte es sein, sowohl auf EU-Ebene als auch in den einzelnen Mitgliedstaaten zu guten Ergebnissen zu kommen.

2.3.

Der EWSA betont, dass die EU einen effizienten und flexiblen Entscheidungsprozess benötigt, um sicherzustellen, dass Rechtsvorschriften und nicht bindende Instrumente, wie Koordinierungsrahmen und Empfehlungen, mit den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen Schritt halten können. Vor dem Hintergrund, dass sich der EWSA bereits in früheren Stellungnahmen für eine Überprüfung von Einstimmigkeitserfordernissen bei der EU-Gesetzgebung ausgesprochen hat (3), begrüßt er, dass die Kommission die Diskussion hinsichtlich bestehender Schranken in der politischen Rechtsetzung vorantreibt und mit dieser Mitteilung auch im Bereich der Sozialpolitik die Diskussion zu Möglichkeiten der Ausweitung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit angestoßen hat. Gleichzeitig betont der EWSA, dass die Rolle der EU im sozialpolitischen Bereich laut Vertrag ausschließlich auf die Unterstützung und Ergänzung der Tätigkeiten der Mitgliedstaaten in den in Artikel 153 Absatz 1 AEUV definierten Bereichen beschränkt ist. Dies spiegelt die Vielfalt der nationalen Sozialsysteme und Traditionen wider und impliziert, dass die Mitgliedstaaten bei der Konzipierung und Umsetzung ihrer sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Führungsrolle spielen.

2.4.

Die vertragliche Rolle der EU besteht nach Auffassung des EWSA darin, die Aktivitäten der Mitgliedstaaten in der EU zu unterstützen und in vertraglich definierten Bereichen zu ergänzen (Artikel 153 Absatz 1 AEUV). Dies spiegelt die Vielfalt der nationalen Sozialsysteme und Traditionen wider und impliziert die führende Rolle und auch den hohen Grad der Souveränität in der europäischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung und Umsetzung ihrer Maßnahmen in den Bereichen Sozialpolitik und Arbeitsmärkte.

2.5.

Der EWSA betont, dass ein überwiegender Teil der sozialpolitischen Rechtsvorschriften der EU mit qualifizierter Mehrheit und nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet wurde.

2.6.

Diese sind: Nichtdiskriminierung (Artikel 19 Absatz 1 AEUV); soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer (außer für die Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit) (Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe c AEUV); der Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrags (Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe d AEUV); die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen (Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe f AEUV) und Beschäftigungsbedingungen der Staatsangehörigen aus Drittstaaten, die sich rechtmäßig im Gebiet der Gemeinschaft aufhalten (Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe g AEUV). Während Artikel 19 AEUV die Zustimmung des Europäischen Parlaments vorsieht, ist dies bei Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe c, d, f und g nicht der Fall.

2.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Einbindung des Europäischen Parlaments auf hoher Ebene in das Gesetzgebungsverfahren im Einklang mit den Bestimmungen des Vertrags — insbesondere im sozialpolitischen Bereich — wichtig ist, da sozialpolitische Fragestellungen immer auch den Zusammenhalt der Gesellschaft und eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft entsprechend der vertraglich festgeschriebenen Ziele (Artikel 3 EUV).

2.8.

Wie insbesondere auch in der Steuerpolitik begrüßt der EWSA, dass die Kommission mit dieser Mitteilung die Diskussion zur Ausweitung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auch im Bereich der Sozialpolitik angestoßen hat (4). Das Verfahren mit qualifizierter Mehrheit basiert auf einer Kultur des Kompromisses. Es setzt eine Debatte voraus und ermöglicht pragmatische Ergebnisse, die den Interessen der Union in ihrer Gesamtheit Rechnung tragen können. Die Aussicht auf eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wirkt als Katalysator dafür, durch Kompromissfindung und die Einbeziehung aller Akteure, eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu finden.

2.9.

Der EWSA weist darauf hin, dass sich die EU in ihrer neuen Strategischen Agenda 2019-2024 für die Umsetzung der Säule sozialer Rechte auf der Ebene der EU und der Mitgliedstaaten ausgesprochen hat. Dabei sollen die jeweiligen Zuständigkeiten gebührend beachtet werden.

2.10.

Für den EWSA kommt es entscheidend darauf an, dass die EU auch bei Anwendung des Instruments der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit dem Subsidiaritätsgrundsatz verpflichtet bleibt und sich in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, auf Bereiche konzentriert, in denen gemeinsame Ziele nicht wirksamer auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene erreicht werden können. Ebensolches gilt für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wonach Inhalt und Form der Maßnahmen der EU nicht über die Ziele der Verträge hinausgehen dürfen. Diese Grundsätze sollten bei der Debatte über die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit klargestellt werden.

2.11.

Artikel 151 AEUV schreibt als Ziel der Sozialpolitik „die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen […] auf dem Wege des Fortschrittes“ fest. Der EWSA betont, dass Artikel 153 Absatz 2 AEUV Kriterien vorgibt, die entsprechende EU-Maßnahmen im sozialpolitischen Bereich erfüllen müssen. So beinhalten Richtlinien vornehmlich Mindestregelungen unter Berücksichtigung der nationalen Bedingungen und sollen der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen nicht entgegenstehen. Der EWSA betont, dass das Recht der Mitgliedstaaten, sich bei der Umsetzung einem höheren nationalen Schutzniveau verpflichtet zu fühlen, ebenso wie die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundsätze ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, — gleichgültig welches Regime der Beschlussfassung gilt — nicht beeinträchtigt werden darf.

2.12.

Der EWSA stellt ferner fest, dass die Kommission, das EP und der Rat in Nummer 17 der Präambel der Europäischen Säule sozialer Rechte die Achtung der Vielfalt der nationalen Systeme, einschließlich der Rolle der Sozialpartner, und in Nummer 19 die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ebenso wie deren Souveränität bei der rechtlichen Festsetzung der Fundamente der sozialen Sicherheitssysteme bestätigt haben.

2.13.

Der EWSA hebt hervor, dass die gemäß Artikel 155 AEUV auf EU-Ebene umgesetzten Vereinbarungen der Sozialpartner einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des sozialpolitischen Besitzstands der EU leisten. Er begrüßt, dass nach der Mitteilung der Kommission den Ergebnissen des sozialen Dialogs und den Richtlinien im Hinblick auf die Annahme die gleiche Bedeutung beigemessen wird. Er fordert für den möglichen Übergang vom Einstimmigkeitsverfahren zum Verfahren mit qualifizierter Mehrheit Garantien für die weitere umfassende Einbeziehung der Sozialpartner im Bereich der sozialpolitischen Rechtsetzung und der Politikgestaltung sowie die Wahrung ihrer Autonomie bei der Umsetzung und eventuellen Überarbeitung ihrer autonomen Vereinbarungen. Der soziale Dialog spielt eine wichtige Rolle für den Sozialschutz. Sie sorgen auch durch autonome Rechtsetzung für sozialen Fortschritt in der EU.

2.14.

Der EWSA teilt die Sicht der Kommission und sieht in dem Instrument der verstärkten Zusammenarbeit keine Alternative zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit. Das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit kann gerade bei sozialpolitischen Fragestellungen zur Fragmentierung des Binnenmarkts und zur Ungleichbehandlung von EU-Bürgern, je nachdem in welchem Mitgliedstaat sie leben, führen.

2.15.

Auf der anderen Seite ist das Europäische Semester nach Ansicht des EWSA ein weiteres wirksames und zweckdienliches Instrument, um mit Unterstützung und Anleitung der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner — nicht zuletzt auch auf dem Weg des „gemeinsamen Lernens“ — mehr und bessere Konvergenz zu erlernen und Fortschritte in den nationalen Reformen zu erzielen. Dies respektiert auch Wort und Geist von Artikel 156 AEUV. Der EWSA unterstreicht die Bemühungen, im Rahmen des Europäischen Semesters verbesserte Methoden zur Koordinierung der nationalen Politiken für Beschäftigung und Sozialschutz und ihrer Reformen zu entwickeln und gleichzeitig die nationalen Sozialpartner auf sinnvolle Weise in die europäische Arbeit einzubeziehen. Die europäische Säule sozialer Rechte, die als Richtschnur für Reformen dient, würde daher zur Entwicklung eines Fahrplans für eine bessere Konvergenz und einen stärkeren Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten beitragen.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der EWSA stellt fest, dass es derzeit in ein und denselben Politikbereichen Beschlussfassungen mit Einstimmigkeit und mit qualifizierter Mehrheit gibt. Dies führt zur Ungleichheit bei der Entwicklung sozialer Standards und Lücken des sozialen Schutzes.

3.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass es weitgehende EU-Rechtsvorschriften zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie zur Gleichbehandlung aus Gründen der ethnischen Herkunft u. a. m. gibt. Das ist ein großer Erfolg der EU, die hier auch international Standards setzt. Dabei wird durch EU-Recht die Gleichbehandlung aus Gründen der Religion, der Weltanschauung, der Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung nur mit Bezug auf Beschäftigung und Beruf geschützt. Eine Richtlinie, die Diskriminierung in der Union umfassend verbietet wäre ausgesprochen komplex und deshalb mit der Beschlussfassung mit Einstimmigkeit kaum erreichbar. Hierzu hat sich die EU in der Agenda für nachhaltige Entwicklung 2030 jedoch verpflichtet. Dieses Ziel ist durch die neue Strategische Agenda 2019-2024 bekräftigt worden. Der EWSA befürwortet für die Rechtsetzung zur Nichtdiskriminierung den vollständigen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit.

3.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass die EU gemäß Artikel 48 AEUV auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendige Maßnahmen mit qualifizierter Mehrheit beschließen kann. Dagegen müssen Empfehlungen zur sozialen Sicherheit und dem Schutz der Arbeitnehmer einstimmig sein. Eine Überleitung zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit wäre kohärent und sachgerecht. Es stellt sich auch die Frage, warum hier lediglich auf Empfehlungen abgezielt wird und weitergehende Rechtsinstrumente von der Kommission nicht in Betracht gezogen wurden.

3.4.

Der EWSA anerkennt, dass der Schutz der Arbeitnehmer bei Entlassungen immer ein Kernpunkt des jeweiligen nationalen Arbeitsrechts war. Der EWSA sieht aber auch, dass die EU inzwischen Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arbeitnehmer wie beispielsweise schwangeren Frauen oder Teilzeitbeschäftigte entwickelt hat. Dies spricht dafür, europaweit wenigstens ein Minimum an einheitlichen Verfahrens- und Schutzrechten zu garantieren, damit diese Schutzmechanismen nicht ins Leere gehen. Die europäische Säule sozialer Rechte sieht Informationsrechte des gekündigten Beschäftigten sowie Zugang zu wirkungsvollen und unparteiischen Streitbeilegungen, Rechtsbehelfe und gegebenenfalls Entschädigungen vor. Dies spricht für eine Überleitung in die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit um eine entsprechende Richtlinie zur Umsetzung zu ermöglichen.

3.5.

Der EWSA betont, dass ein fundierter Rechtsrahmen zur Vertretung und kollektiven Wahrnehmung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft, die Schaffung qualitativer Arbeitsplätze und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der EU sind. Die Unternehmen im Binnenmarkt arbeiten grenzüberschreitend immer enger zusammen. Für Unternehmen und Unternehmensgruppen in der EU gilt die Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen wurde. In anderen Bereichen der EU- Rechtsetzung zur Beteiligung der Arbeitnehmer gilt dagegen weiterhin die Einstimmigkeit. Die EU muss auch hier — soweit sachlich geboten — überprüfen, inwiefern über das Verfahren mir der qualifizierten Mehrheit neue Möglichkeiten einer zukunftsweisenden Gestaltung der Sozialpartnerschaft eröffnet werden.

3.6.

Der EWSA empfiehlt für die Beschäftigungsbedingungen von Staatsangehörigen aus Drittstaaten, die sich rechtmäßig in der EU aufhalten, den Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit. Die Beschäftigungsbedingungen von EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern müssen übereinstimmen, wenn der soziale Zusammenhalt nicht gefährdet werden soll.

3.7.

Im Lichte der laufenden Debatte über den Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit stimmt der EWSA in den Fällen, in denen die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zur Anwendung kommt, den Erwägungen der Kommission bezüglich einer Entscheidung für die allgemeine Überleitungsklausel in Artikel 48 Absatz 7 EUV zu, da dieser Weg sowohl den einstimmigen Beschluss des Europäischen Rats als auch die Unterstützung aller nationalen Parlamente und die Zustimmung des Europäischen Parlaments vorrausetzt. Damit wäre eine breite demokratische Legitimation gegeben und den verfassungsrechtlichen Vorgaben auf nationaler Ebene entsprechen. Das wäre bei der Überleitung über Artikel 153 AEUV nicht der Fall.

3.8.

Der EWSA stellt fest, dass eine Frage in der Kommissionsmitteilung ungelöst bleibt. Es ist nicht klar, ob der Beschluss, eine bestimmte Rechtsgrundlage von der Einstimmigkeit in die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit überzuleiten, ein für alle Mal oder von Fall zu Fall gefasst wird. Der EWSA ersucht die Kommission um Klarstellung, ob es sich bei der Nutzung der allgemeinen Übergangsklausel in Artikel 48 Absatz 7 EUV um einen generellen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit oder um jeweilige Einzelfallentscheidungen handeln soll. Aus Sicht des EWSA muss jedenfalls sichergestellt sein, dass die Nutzung der Übergangsklausel zu einer effizienteren Entscheidungsfindung und Beschlussfassung führt und nicht etwa weitere Hürden schafft.

Brüssel, den 25. September 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Vgl. folgende Stellungnahmen des EWSA: ABl. C 230 vom 14.7.2015, S. 24; ABl. C 434 vom 15.12.2017, S. 18; ABl. C 271 vom 19.9.2013, S. 23; ABl. C 332 vom 8.10.2015, S. 8.

(2)  EWSA-Stellungnahme „Besteuerung – Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit“, ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 90.

(3)  Siehe Fußnote 2.

(4)  Siehe Fußnote 1.


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Artikel 59 Absatz 3 der Geschäftsordnung):

1.   Ziffer 2.8

Ändern:

Wie insbesondere auch in der Steuerpolitik Der EWSA begrüßt der EWSA, dass die Kommission mit dieser Mitteilung die Initiative ergriffen hat, um die Debatte zu eröffnen und zu erläutern, wie die Überleitung hin zu einer Diskussion zur Ausweitung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auch im Bereich der Sozialpolitik ohne überhastete Vorschläge aussehen könnte angestoßen hat (1). Das Verfahren mit qualifizierter Mehrheit basiert auf einer Kultur des Kompromisses. Es setzt eine Debatte voraus und ermöglicht pragmatische Ergebnisse, die den Interessen der Union in ihrer Gesamtheit Rechnung tragen können. Die Aussicht auf eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wirkt als Katalysator dafür, durch Kompromissfindung und die Einbeziehung aller Akteure, eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu finden.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

36

Nein-Stimmen

:

74

Enthaltungen

:

2

2.   Neue Ziffer nach Ziffer 2.8

Neue Ziffer nach Ziffer 2.8:

Andererseits beruht der Grundsatz der Einstimmigkeit in der Beschlussfassung auf der Notwendigkeit, die nationale Kontrolle der einschlägigen sozialpolitischen Bestimmungen im EU-Vertrag zu bewahren und eine Einmischung in die Kernbestandteile der nationalen Sozialsysteme, für die in erster Linie die Mitgliedstaaten gemeinsam mit den Sozialpartnern zuständig sind, zu verhindern.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

31

Nein-Stimmen

:

82

Enthaltungen

:

3

3.   Ziffer 3.1

Ändern:

Der EWSA stellt fest, dass es derzeit in ein und denselben Politikbereichen Beschlussfassungen mit Einstimmigkeit und mit qualifizierter Mehrheit gibt. Der EWSA ist der Ansicht, dass die im Sozialkapitel des EU-Vertrags festgeschriebene Aufteilung zwischen qualifizierter Mehrheit und Einstimmigkeit weiterhin relevant ist, da sie die Vielfalt und Heterogenität der nationalen Sozialsysteme der Mitgliedstaaten, z. B. beim Sozialschutz, den Aufgaben der Sozialpartner sowie der Rolle des Arbeitsrechts und der Tarifverträge, widerspiegelt. Dies führt zur Ungleichheit bei der Entwicklung sozialer Standards und Lücken des sozialen Schutzes.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

32

Nein-Stimmen

:

74

Enthaltungen

:

3

4.   Ziffer 3.2

Ändern:

Der EWSA weist darauf hin, dass es weitgehende EU-Rechtsvorschriften zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie zur Gleichbehandlung aus Gründen der ethnischen Herkunft u. a. m. gibt. Das ist ein großer Erfolg der EU, die hier auch international Standards setzt. Dabei wird durch EU-Recht die Gleichbehandlung aus Gründen der Religion, der Weltanschauung, der Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung nur mit Bezug auf Beschäftigung und Beruf geschützt. Diese Richtlinien wurden einstimmig angenommen. Eine Richtlinie, die Diskriminierung in der Union umfassend verbietet, wäre ausgesprochen komplex, was die lange Verfahrensdauer und die langsamen Fortschritte erklärt und deshalb mit der Beschlussfassung mit Einstimmigkeit kaum erreichbar. Hierzu hat sich die EU in der Agenda für nachhaltige Entwicklung 2030 jedoch verpflichtet. Dieses Ziel ist durch die neue Strategische Agenda 2019-2024 bekräftigt worden. Der EWSA befürwortet für die Rechtsetzung zur Nichtdiskriminierung den vollständigen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

31

Nein-Stimmen

:

78

Enthaltungen

:

2

5.   Ziffer 3.4

Streichen:

Der EWSA anerkennt, dass der Schutz der Arbeitnehmer bei Entlassungen immer ein Kernpunkt des jeweiligen nationalen Arbeitsrechts war. Der EWSA sieht aber auch, dass die EU inzwischen Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arbeitnehmer wie beispielsweise schwangeren Frauen oder Teilzeitbeschäftigte entwickelt hat. Dies spricht dafür, europaweit wenigstens ein Minimum an einheitlichen Verfahrens- und Schutzrechten zu garantieren, damit diese Schutzmechanismen nicht ins Leere gehen. Die europäische Säule sozialer Rechte sieht Informationsrechte des gekündigten Beschäftigten sowie Zugang zu wirkungsvollen und unparteiischen Streitbeilegungen, Rechtsbehelfe und gegebenenfalls Entschädigungen vor. Dies spricht für eine Überleitung in die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit um eine entsprechende Richtlinie zur Umsetzung zu ermöglichen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

35

Nein-Stimmen

:

77

Enthaltungen

:

2

6.   Ziffer 3.5

Streichen:

Der EWSA betont, dass ein fundierter Rechtsrahmen zur Vertretung und kollektiven Wahrnehmung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft, die Schaffung qualitativer Arbeitsplätze und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der EU sind. Die Unternehmen im Binnenmarkt arbeiten grenzüberschreitend immer enger zusammen. Für Unternehmen und Unternehmensgruppen in der EU gilt die Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschlossen wurde. In anderen Bereichen der EU-Rechtsetzung zur Beteiligung der Arbeitnehmer gilt dagegen weiterhin die Einstimmigkeit. Die EU muss auch hier –soweit sachlich geboten – überprüfen, inwiefern über das Verfahren mir der qualifizierten Mehrheit neue Möglichkeiten einer zukunftsweisenden Gestaltung der Sozialpartnerschaft eröffnet werden.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

34

Nein-Stimmen

:

84

Enthaltungen

:

2

7.   Ziffer 3.6

Streichen:

Der EWSA empfiehlt für die Beschäftigungsbedingungen von Staatsangehörigen aus Drittstaaten, die sich rechtmäßig in der EU aufhalten, den Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit. Die Beschäftigungsbedingungen von EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern müssen übereinstimmen, wenn der soziale Zusammenhalt nicht gefährdet werden soll.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

30

Nein-Stimmen

:

85

Enthaltungen

:

1

8.   Ziffer 1.7

Ändern:

Der EWSA stellt fest, dass es derzeit in ein und denselben Politikbereichen Beschlussfassungen mit Einstimmigkeit und mit qualifizierter Mehrheit gibt. Dies führt zur Ungleichheit bei der Entwicklung sozialer Standards und Lücken des sozialen Schutzes. Der EWSA befürwortet deshalb jedenfalls für die Rechtsetzung im Bereich der Nichtdiskriminierung sowie für Empfehlungen zur sozialen Sicherheit und zum Schutz der Arbeitnehmer den vollständigen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit. Der EWSA ist der Ansicht, dass die im Sozialkapitel des EU-Vertrags festgeschriebene Aufteilung zwischen qualifizierter Mehrheit und Einstimmigkeit weiterhin relevant ist, da sie die Vielfalt und Heterogenität der nationalen Sozialsysteme der Mitgliedstaaten, z. B. beim Sozialschutz, den Aufgaben der Sozialpartner sowie der Rolle des Arbeitsrechts und der Tarifverträge, widerspiegelt.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

32

Nein-Stimmen

:

74

Enthaltungen

:

3

9.   Ziffer 1.8

Streichen:

Der EWSA weist darauf hin, dass die EU Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses wie beispielsweise von schwangeren Frauen oder Teilzeitbeschäftigten entwickelt hat. Dies spricht dafür, europaweit ein Minimum an einheitlichen Verfahrens- und Schutzrechten zu garantieren und zum Verfahren mit qualifizierter Mehrheit überzugehen.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

36

Nein-Stimmen

:

81

Enthaltungen

:

1

10.   Ziffer 1.10

Streichen:

Der EWSA empfiehlt bei den Beschäftigungsbedingungen von Staatsangehörigen aus Drittstaaten, die sich rechtmäßig in der EU aufhalten, den Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, um Ungleichbehandlungen zu vermeiden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen

:

30

Nein-Stimmen

:

85

Enthaltungen

:

1


(1)   Siehe Fußnote 1.