EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 20.3.2020
COM(2020) 123 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT
über die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakt
EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 20.3.2020
COM(2020) 123 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT
über die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakt
Die COVID-19-Pandemie hat einen großen wirtschaftlichen Schock bewirkt, der bereits jetzt erhebliche negative Auswirkungen auf die Europäische Union hat. Die Folgen für das BIP-Wachstum hängen sowohl von der Dauer der Pandemie als auch von den Maßnahmen ab, die auf nationaler und europäischer Ebene ergriffen werden, um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen, die Produktionskapazitäten zu schützen und die Gesamtnachfrage zu stützen. In ihrer Mitteilung vom 13. März 2020 über die koordinierte wirtschaftliche Reaktion auf den COVID-19-Ausbruch hat die Kommission mehrere Szenarien analysiert und ein wirtschaftliches Szenario vorgestellt, dem zufolge das reale BIP in der EU im Jahr 2020 um 1 % sinken könnte. In der Mitteilung wurde darauf hingewiesen, dass bei tiefer greifenden Auswirkungen der Pandemie noch ungünstigere Szenarien nicht ausgeschlossen werden können. In Anbetracht der seither eingetretenen Entwicklungen sind solche ungünstigen Szenarien wahrscheinlich geworden. Sollte die Gesundheitskrise bis Anfang Juni oder darüber hinaus fortdauern, könnte die Wirtschaftstätigkeit im Jahr 2020 so stark einbrechen wie im Jahr 2009, dem schlimmsten Jahr der Wirtschafts- und Finanzkrise.
Die Mitgliedstaaten haben bereits Haushaltsmaßnahmen verabschiedet oder sind im Begriff, dies zu tun, und ergreifen nun weitere Maßnahmen, um die Kapazitäten der Gesundheitssysteme zu erhöhen und besonders stark betroffene Bürgerinnen und Bürger und Branchen zu unterstützen. Dazu gehören auch umfassende Liquiditätshilfemaßnahmen und andere Garantien, die allerdings keine unmittelbaren Auswirkungen auf den gesamtstaatlichen Saldo haben.
Die Kommission beobachtet diese Maßnahmen, die vor dem Hintergrund des Einbruchs der Wirtschaftstätigkeit zu wesentlich höheren Haushaltsdefiziten beitragen werden, mit höchster Aufmerksamkeit. Die Kommission und der Rat haben bereits klargestellt, dass bei Maßnahmen im Zusammenhang mit dem COVID-19-Ausbruch die im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehene Flexibilität voll ausgeschöpft wird. Da sich die Krise der Kontrolle der Regierungen entzieht und erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen hat, findet die Bestimmung des Pakts über außergewöhnliche Ereignisse Anwendung. Dies bedeutet, dass die Kommission bei der Bewertung der Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts die Auswirkungen der oben genannten Maßnahmen auf den Haushalt nicht berücksichtigen wird. Sie wird ihre Bewertung, bei der sie auch die berücksichtigungsfähigen Beträge prüft, auf der Grundlage der von den Mitgliedstaaten übermittelten erhobenen Daten vornehmen.
Angesichts des Umfangs der fiskalischen Anstrengung‚ die erforderlich ist, um die europäischen Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen vor den Folgen dieser Krise zu schützen, muss im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts mehr Flexibilität eingeräumt werden, um die Wirtschaft nach der Pandemie zu unterstützen.
Die EU muss auf diese Krise, die sich so dynamisch entwickelt, weiterhin rasch, energisch und koordiniert reagieren. Auf der Videokonferenz mit Mitgliedern des Europäischen Rates vom 17. März 2020 kündigte die Präsidentin der Kommission die bevorstehende Aktivierung der sogenannten allgemeinen Ausweichklausel an. Diese Klausel wurde mit dem Sechserpaket zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2011 eingeführt, das als Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise vorgelegt worden war. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat insbesondere gezeigt, dass die fiskalpolitischen Vorschriften der EU um spezifische Bestimmungen erweitert werden mussten, die im Falle eines schweren Konjunkturabschwungs im Euro-Währungsgebiet oder in der EU insgesamt und einer dadurch verursachten allgemeinen Krisensituation allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer koordinierten, geordneten Abweichung von den regulären Anforderungen bietet.
Die in den Artikeln 5 Absatz 1, 6 Absatz 3, 9 Absatz 1 und 10 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1466/97 sowie in den Artikeln 3 Absatz 5 und 5 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 enthaltene Klausel erleichtert die Koordinierung der Haushaltspolitik in Zeiten eines schweren Konjunkturabschwungs.
Die allgemeine Ausweichklausel versetzt die Mitgliedstaaten in die Lage, im Rahmen der präventiven und korrektiven Verfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts haushaltspolitische Maßnahmen zu ergreifen, die es ermöglichen, einer solchen Situation angemessen zu begegnen. So heißt es im Zusammenhang mit der präventiven Komponente in Artikel 5 Absatz 1 und Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung (EG) 1466/97: „[...] bei einem schweren Konjunkturabschwung im Euro-Währungsgebiet oder in der Union insgesamt kann den Mitgliedstaaten gestattet werden, vorübergehend von dem Anpassungspfad in Richtung auf das mittelfristige Haushaltsziel [...] abzuweichen, vorausgesetzt, dies gefährdet nicht die mittelfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“. Im Hinblick auf die korrektive Komponente ist in Artikel 3 Absatz 5 und Artikel 5 Absatz 2 festgelegt, dass der Rat im Falle eines schweren Konjunkturabschwungs im Euro-Währungsgebiet oder in der Union insgesamt auf Empfehlung der Kommission beschließen kann, einen überarbeiteten haushaltspolitischen Kurs festzulegen.
Die anstehende Bewertung der Stabilitäts- und Konvergenzprogramme der Mitgliedstaaten, die Frühjahrsprognose und der anschließende Vorschlag der Kommission für länderspezifische Empfehlungen des Rates werden Gelegenheit bieten, die erforderliche Koordinierung zu gewährleisten und Leitlinien für einen auf nationaler und aggregierter Ebene angemessenen haushaltspolitischen Kurs festzulegen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts des erwarteten schweren Konjunkturabschwungs ist die Kommission der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Aktivierung der allgemeinen Ausweichklausel erstmals seit ihrer Einführung im Jahr 2011 erfüllt sind, und ersucht den Rat, diese Schlussfolgerung zu billigen, um den Mitgliedstaaten mehr Klarheit zu verschaffen.
Durch die allgemeine Ausweichklausel werden die Verfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht ausgesetzt. Sie gibt der Kommission und dem Rat die Möglichkeit, im Rahmen des Pakts unter Abweichung von den normalerweise geltenden Haushaltsverpflichtungen die erforderlichen Koordinierungsmaßnahmen zu ergreifen.