16.7.2021 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 286/88 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Digitalisierung der Justiz in der Europäischen Union — Ein Instrumentarium für Gelegenheiten“
(COM(2020) 710 final)
(2021/C 286/16)
Berichterstatter: |
João NABAIS |
Befassung |
21.4.2021 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch |
Annahme in der Fachgruppe |
31.3.2021 |
Verabschiedung auf der Plenartagung |
27.4.2021 |
Plenartagung Nr. |
560 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
237/2/9 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Mitteilung als wesentlichen und wirksamen Schritt auf dem Weg zur Digitalisierung der Justiz. Dabei gilt es insbesondere, die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene zu unterstützen und ihnen nicht nur die erforderlichen Finanzmittel, sondern auch die einschlägigen Werkzeuge an die Hand zu geben. Mit dieser Unterstützung lässt sich die Digitalisierung der Justiz auf europäischer Ebene ausweiten, um Mechanismen für eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden einzurichten. |
1.2. |
Der EWSA weist darauf hin, dass sich die Situation in den einzelnen Mitgliedstaaten derzeit sehr unterschiedlich darstellt und es eine Vielzahl nationaler IT-Tools gibt, was zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Instrumente wie z. B. e-CODEX (1) nicht auf kohärente Weise nutzen. |
1.3. |
Daher wird es nach Ansicht des EWSA immer wichtiger, Regeln für eine stärkere Vereinheitlichung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten festzulegen. |
1.4. |
Die Digitalisierung der Justiz ist nach Auffassung des EWSA ein grundlegendes Instrument, um eine echte Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung krimineller Praktiken zu gewährleisten, die in Europa erheblichen Schaden anrichten. |
1.5. |
Der EWSA weist darauf hin, dass einige spezifische Aspekte der Mitteilung nicht der vielschichtigen Realität der Justizsysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. |
1.6. |
Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission eine Richtlinie über die Fernteilnahme an Gerichtsverfahren erlässt, in der die Kommunikation per Videoanruf in jeder Form und unabhängig vom Endgerät zugelassen und geregelt wird, sofern dabei das Recht auf Privatsphäre gewährleistet ist und der Schutz der personenbezogenen Daten der Beteiligten sowie der Datenschutz bezüglich des laufenden Verfahrens nicht gefährdet werden. |
1.7. |
Der EWSA ist überzeugt, dass der Datenschutz selbst beim Einsatz anderer bereits existierender Fernkommunikationsmittel nicht gefährdet wird, da ja die meisten Gerichtsverhandlungen für die breite Öffentlichkeit zugänglich sind. |
1.8. |
Nach Ansicht des EWSA muss bei Ermittlungen gegen eine potenziell terroristische Vereinigung in einem Mitgliedstaat die Polizeibehörde sofortigen Zugang zu allen Informationen haben, die in den Datenbanken von Europol, Eurojust und der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), aber auch in den Datenbanken der Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten verfügbar sind. |
1.9. |
Der EWSA betont, dass die Vorteile der Digitalisierung auch umfassend für die Möglichkeit der Vollstreckung von Urteilen in anderen Mitgliedstaaten, für alternative Streitbeilegungsverfahren und für die Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den EU-Agenturen genutzt werden müssen. |
2. Die Mitteilung der Kommission
2.1. |
In der Mitteilung wird ein Instrumentarium für die Digitalisierung der Justiz vorgeschlagen, um den Justizsektor im digitalen Raum voranzubringen. Der vorgeschlagene Ansatz trägt den unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten und Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten Rechnung und wahrt das Subsidiaritätsprinzip sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in vollem Umfang. Gleichzeitig ist es wichtig, dass alle Mitgliedstaaten darauf hinwirken, die bestehenden Digitalisierungsunterschiede und die Fragmentierung zwischen den nationalen Justizsystemen zu verringern und die im Rahmen der einschlägigen EU-Finanzierungsmechanismen verfügbaren Möglichkeiten zu nutzen. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1. |
Die COVID-19-Krise hat viele Probleme verursacht, die das Justizsystem in seiner Funktionsweise und den wirksamen Rechtsschutz beeinträchtigen. Es kam zu Verzögerungen bei Verhandlungsterminen und bei der grenzüberschreitenden Zustellung von Gerichtsurkunden; vorübergehend war es nicht möglich, persönlichen Rechtsbeistand zu erhalten; und aufgrund von Verzögerungen sind Fristen verstrichen. Gleichzeitig ist die Arbeit der Gerichte wegen der zunehmenden Zahl pandemiebedingter Insolvenz- und Kündigungsverfahren noch wichtiger geworden. |
3.2. |
Aus diesem Grund müssen neue Maßnahmen für eine umfassendere und schnellere Digitalisierung der Justiz ergriffen werden. Dabei gilt es insbesondere die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene zu unterstützen und ihnen nicht nur die erforderlichen Finanzmittel an die Hand zu geben, sondern auch die Werkzeuge, um die Justizbehörden und Justizbediensteten in ihrer Gesamtheit für diese neue Ära des Wandels zu wappnen. Es kommt insbesondere darauf an, den Zugang zur Justiz zu erleichtern und für eine bürgernahe Justiz zu sorgen. |
3.3. |
Nur durch diese Unterstützung auf innerstaatlicher Ebene lässt sich die Digitalisierung auch auf europäischer Ebene ausweiten, um Mechanismen für eine stärkere grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden einzurichten. |
3.4. |
Es sei darauf hingewiesen, dass sich die Situation in den einzelnen Mitgliedstaaten derzeit sehr unterschiedlich darstellt und es eine Vielzahl nationaler IT-Tools gibt, was zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten bestimmte Instrumente wie z. B. e-CODEX nicht auf kohärente Weise nutzen. |
3.5. |
Daher wird es immer wichtiger, Regeln im Hinblick auf eine stärkere Vereinheitlichung zwischen den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten festzulegen. |
3.6. |
Im Mittelpunkt der Mitteilung stehen die weitere Digitalisierung der öffentlichen Justiz, die Förderung des Einsatzes sicherer und qualitativ hochwertiger Fernkommunikationstechnologien (Videokonferenzen), die Erleichterung der Vernetzung nationaler Datenbanken und Register sowie die Förderung der Nutzung sicherer elektronischer Übertragungskanäle zwischen den zuständigen Behörden. |
3.7. |
Die Digitalisierung der Justiz ist ein grundlegendes Instrument, um eine echte Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung krimineller Praktiken zu gewährleisten, die in Europa erheblichen Schaden anrichten, wie etwa Straftaten im Zusammenhang mit Terrorismus, Geldwäsche oder Korruption, Menschenhandel, Hasskriminalität und Aufstachelung zu Hassreden und Gewalt. |
3.8. |
Die angeführten Straftaten sind heute zunehmend grenzüberschreitend, weshalb der Übergang zu digitalen Technologien ein enormer und wesentlicher Fortschritt beim Ansatz für die Ermittlung und Verfolgung solch schädlicher Praktiken ist. |
3.9. |
Die Kommission hat in diesem Bereich sehr große Anstrengungen unternommen, und ihre Mitteilung ist sehr zu begrüßen; nichtsdestoweniger bleibt die Digitalisierung der Justiz ein langwieriges und schwieriges Unterfangen. |
3.10. |
Es gibt auch konkrete Kritikpunkte an der Mitteilung, wie etwa bestehende Mängel oder das fehlende Verständnis dafür, dass sich die unterbreiteten Vorschläge nicht mit der vielschichtigen Realität der Justiz in den einzelnen Mitgliedstaaten vereinbaren lassen. |
3.11. |
Übersehen hat die Kommission offenbar die Modalitäten für die Durchführung von Gerichtsverfahren oder anderen gerichtlichen Maßnahmen des Zivil-, Handels oder Arbeitsrechts sowie in Strafverfahren (z. B. Befragung von Beschuldigten oder Zeugen im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen), an denen die Beteiligten durch Zuschaltung über marktübliche Programme oder durch Videoanrufe über Kommunikations-Apps aus der Ferne teilnehmen. |
3.12. |
Der EWSA versteht zwar, dass es notwendig ist, die Konventionen der Justiz zu achten, doch hat die COVID-19-Krise gezeigt, dass eine Videokonferenz nicht unbedingt über die bestehenden Mechanismen für die Interaktion mit den Gerichten (auf nationaler oder internationaler Ebene) stattfinden muss, bei denen die Verfahrensbeteiligten im Gericht am Wohnort oder an zuvor bestimmten und genehmigten Orten (Polizeidienststellen, Räumlichkeiten der Gerichtsmedizin oder anderer Behörden) präsent sein müssen. Die Kommunikation mit Zeugen kann nämlich auch ortsunabhängig über Computer oder Mobiltelefone erfolgen. |
3.13. |
Heute gibt es bereits bestimmte Fernkommunikationsmittel, die nicht nur den Schutz der Privatsphäre, sondern auch den Datenschutz gewährleisten können — eine grundlegende Voraussetzung, die offenkundig erfüllt sein muss. |
3.14. |
Bei Gerichtsverfahren gilt im Allgemeinen der Grundsatz der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlungen. Einer Gerichtsverhandlung, bei der eine Rechtssache öffentlich verhandelt und darüber geurteilt wird, wohnen nicht nur die Angehörigen und Freunde der verschiedenen Parteien (Kläger und Beklagte in Verfahren des Zivil-, Handels- oder Arbeitsrechts bzw. Nebenkläger und Angeklagte in Strafsachen) bei, sondern auch weitere, nicht am Verfahren beteiligte Personen — in vielen Fällen sogar Journalisten und andere Medienvertreter. |
3.15. |
Der EWSA ist daher überzeugt, dass der Datenschutz selbst beim Einsatz anderer Fernkommunikationsmittel, wie z. B. Computerplattformen oder anderer bereits existierender und ordnungsgemäß zertifizierter digitaler Anwendungen, nicht gefährdet wird, da ja die meisten Verhandlungen für die breite Öffentlichkeit zugänglich sind. |
3.16. |
Darüber hinaus sollte insbesondere im Strafprozessrecht der Beschuldigte selbst entscheiden können, ob er über Fernkommunikationsmittel an der Verhandlung teilnimmt, statt persönlich vor Gericht zu erscheinen, außer in besonderen Fällen, in denen ein solches persönliches Erscheinen vor Gericht gerechtfertigt ist. |
3.17. |
Bei Zeugenaussagen muss garantiert werden, dass Menschen mit Behinderungen und diejenigen, die in einer kleinen Ortschaft viele Kilometer vom nächsten Gericht entfernt wohnen, nicht die Mühe auf sich nehmen müssen, ihren Wohnort zu verlassen, um stundenlang im Gericht zu warten, bis sie als Zeuge aufgerufen werden. Heute gibt es zuverlässige und zertifizierte elektronische Plattformen, die einen sicheren und vertraulichen Austausch von Informationen und Aussagen über die Fernkommunikation gewährleisten. |
3.18. |
Die Kommission schlägt in dieser Mitteilung „die Förderung des Einsatzes sicherer und qualitativ hochwertiger Fernkommunikationstechnologie (Videokonferenzen)“ vor. |
3.19. |
Daher empfiehlt der EWSA im Einklang mit den vorstehenden Ausführungen, dass die Kommission eine Richtlinie über die Fernteilnahme an gerichtlichen Handlungen erlässt, in der jede Form der Kommunikation per Videoanruf zugelassen wird — ganz gleich, welches Endgerät (z. B. PC, Laptop oder sogar Mobiltelefon) dafür benutzt wird, sofern das Recht auf Privatsphäre gewährleistet ist und der Schutz der personenbezogenen Daten des Prozessbeteiligten sowie der Datenschutz bezüglich des laufenden Verfahrens nicht gefährdet werden. |
3.20. |
Dies steht im Einklang mit der strategischen Vorausschau 2020 der Kommission, wonach bei der Digitalisierung der Justiz die Bürgerinnen und Bürger im Vordergrund stehen und neue Möglichkeiten für die verschiedenen Interessenträger geschaffen werden müssen, um Verzögerungen zu verringern, die Rechtssicherheit zu erhöhen und den Zugang zur Justiz kostengünstiger und einfacher zu gestalten. |
3.21. |
In diesem Zusammenhang bedarf es jedoch besonderer Aufmerksamkeit in Bezug auf Minderjährige und schutzbedürftige Personen sowie Verfahren wegen Hasskriminalität oder Sexualstraftaten — Fälle also, in denen es wichtig, wenn nicht sogar unabdingbar ist, den Schutz der Privatsphäre und die Rechtssicherheit zu gewährleisten. |
3.22. |
Die Kommission äußert in der Mitteilung die Absicht zur Entwicklung eines Modells für den Zugang zur Rechtsprechung der nationalen Gerichte in maschinenlesbarer Form, des Europäischen Urteilsidentifikators. |
3.23. |
Dieser Vorschlag verdient uneingeschränkte Unterstützung, sollte jedoch im Hinblick auf seine volle Wirksamkeit durch einen Gesetzgebungsakt zur rein formalen (nicht inhaltlichen) Vereinheitlichung von Gerichtsurteilen ergänzt werden. |
3.24. |
Bekanntlich hat jeder Mitgliedstaat nicht nur seiner eigenen Rechtsvorschriften, sondern auch sein eigenes System von Formalien. So unterscheidet sich ein portugiesisches Gerichtsurteil in seinem Aufbau und seinen Elementen mit Sicherheit von einem italienischen oder einem französischen Urteil, weshalb die Kommission diesen Unterschieden gebührend Rechnung tragen muss. |
3.25. |
Die Kommission schlägt außerdem die Einrichtung einer IT-Kooperationsplattform für gemeinsame Ermittlungsgruppen (GEG) aus Ermittlern und Staatsanwälten der Mitgliedstaaten vor, ggf. mit Unterstützung durch Europol, Eurojust und die EUStA. Der Zugang zu den in den Mitgliedstaaten vorhandenen Daten und Datenbanken sollte dabei auf die zuständigen Behörden beschränkt werden und muss unter Einhaltung der Datenschutzanforderungen erfolgen. |
3.26. |
Dies ist ein ausgezeichneter Vorschlag, der jedoch auf das Hindernis der mangelnden Standardisierung der Vorschriften über die Beweisaufnahme in den Strafprozessordnungen der verschiedenen Mitgliedstaaten stoßen könnte. |
3.27. |
Solange diese Standardisierung nicht erfolgt ist, könnten bestimmte Ermittlungshandlungen gemäß dem nationalen Recht einiger Länder zur Ungültigkeit der Verfahren führen und damit die Wirksamkeit gemeinsamer Ermittlungen untergraben. |
3.28. |
Eines der von der Kommission in der Mitteilung geäußerten Anliegen ist die Bekämpfung des Terrorismus. Neben dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines Gesetzgebungsvorschlags über den digitalen Austausch bei grenzüberschreitenden Terrorismusfällen bedarf es jedoch unbedingt auch der Schaffung und Einführung von Instrumenten für die digitale Vernetzung zum Austausch nicht nur von Gerichtsdokumenten, sondern auch von Informationen über Verdächtige und Aktivitäten von unter Beobachtung stehenden Gruppen (2). |
3.29. |
Terrorismus muss eingedämmt werden, weshalb nach Auffassung des EWSA die Polizeibehörden bei Ermittlungen gegen eine potenziell terroristische Vereinigung in einem Mitgliedstaat unmittelbaren Zugang zu den Datenbanken von Europol, Eurojust und der EUStA, aber auch zu den Datenbanken sämtlicher Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten haben müssen. Dabei muss jedoch dafür Sorge getragen werden, dass keine Weitergabe der Informationen an unbefugte oder nicht vertrauenswürdige Personen erfolgt. |
3.30. |
Darüber hinaus muss für elektronische Behördendienste gesorgt werden, z. B. im Zusammenhang mit der Ausstellung eines neuen Personalausweises, von gerichtlichen Bescheinigungen in elektronischer Form, Personenstandsurkunden oder sogar Strafregisterauszügen sowie bei der Online-Konsultation von Gerichtsverfahren. Dadurch fallen nicht nur Wege zu den Ämtern weg, sondern können diese Dienstleistungen auch erbracht werden, wenn die Räumlichkeiten der Ämter schließen müssen. |
3.31. |
In Bezug auf den Abgleich von Daten (insbesondere von Daten über Unternehmen und Insolvenzen sowie von Daten der Grundbuchämter, Handels- und Strafregister) muss jedoch sichergestellt werden, dass der Zugriff auf diese Daten in einigen Fällen (zum Beispiel bei Strafregisterdaten) nicht das Recht auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten gefährdet. |
3.32. |
Zudem kommt es besonders darauf an, das IT-Modell in diesem Bereich sorgfältig zu prüfen, damit die angestrebte Digitalisierung nicht zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger gereicht oder deren Grundrechte beeinträchtigt. |
3.33. |
Die Kommission schlägt in ihrer Mitteilung die Schaffung des Instruments „Mein E-Justiz-Raum“ vor, über das Einzelpersonen elektronischen Zugang zu Gerichtsdokumenten (in nationalen oder in anderen Mitgliedstaaten anhängigen Gerichtsverfahren) erhalten, die sie oder ihre gesetzlichen Vertreter einsehen und/oder erhalten dürfen. |
3.34. |
Die Möglichkeit des digitalen Zugangs zu Informationen in Gerichtsverfahren, an denen eine Einzelperson als Partei beteiligt ist, ist ein sehr wichtiger Aspekt der Schaffung echter Transparenz in der Justiz. Es handelt sich dabei um ein Instrument, das wesentlich ist, damit die Bürger die Justiz nicht als undurchsichtig und unzugänglich empfinden und ein schnellerer, effizienterer und kostengünstiger Zugang zur Justiz gefördert wird. |
3.35. |
Die Tatsache, dass Justizbehörden und auch Rechtsanwälte elektronischen Zugang zu in einem anderen Mitgliedstaat verhandelten Rechtssachen erhalten, ist ein enormer und sehr wichtiger Fortschritt bei der angestrebten Digitalisierung der Justiz. |
3.36. |
Angesichts der Unterschiede zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten in Bezug auf den Umfang des Untersuchungsgeheimnisses bei Strafverfahren würde dieser ausgezeichnete Vorschlag der Kommission jedoch bei grenzüberschreitenden Registerabfragen ohne eine Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in diesem Bereich mit Sicherheit scheitern. |
3.37. |
Die angestrebte Digitalisierung der Justiz muss den Bürgerinnen und Bürgern der EU neue umfassende Möglichkeiten für die Beilegung von Streitigkeiten im grenzübergreifenden Kontext bieten. Nur so kann das Ziel erreicht werden, den Zugang der Bürger zur Justiz zu verbessern. |
3.38. |
In diesem Zusammenhang nennt die Kommission zum Beispiel die Schaffung (digitaler) Mittel für die Erwirkung grenzüberschreitender Zahlungsbefehle oder die Möglichkeit der grenzüberschreitenden Durchsetzung von Unterhaltspflichten gegenüber Minderjährigen im Rahmen der elterlichen Verantwortung. |
3.39. |
Eine wesentliche Frage klammert Kommission jedoch in ihrer Mitteilung aus, nämlich die Möglichkeit der Vollstreckung von Gerichtsurteilen in anderen Mitgliedstaaten. Die Digitalisierung bietet die Möglichkeit, dieses Ziel in die Praxis umzusetzen, was zahlreiche im Bereich der Justiz Tätige seit langem fordern. Es sei darauf hingewiesen, dass eine solche Möglichkeit in mehreren Bereichen (Handelsrecht und Familienrecht) bereits vorgesehen ist und nun auf die Bereiche ausgeweitet werden sollte, wo es sie noch nicht gibt. |
3.40. |
Seit langem steht außer Frage, dass gerichtliche Entscheidungen notwendigerweise durch die Gerichte des jeweiligen Mitgliedstaats ergehen und die Souveränität der Mitgliedstaaten in diesem Bereich unberührt bleibt. |
3.41. |
Tatsächlich betreffen zahlreiche gerichtliche Entscheidungen jedoch letztlich Güter, Unternehmen oder Einzelpersonen, die sich außerhalb des Gebiets befinden, in dem die Entscheidung ergangen ist. |
3.42. |
In diesen Fällen behindern die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten die rasche Durchsetzung der Justiz, weshalb im Rahmen der innergemeinschaftlichen justiziellen Zusammenarbeit die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden sollten, um die unmittelbare Vollstreckung von Urteilen in dem Gebiet zu erreichen, in dem sich der betroffene Vermögensgegenstand befindet. |
3.43. |
Gleiches gilt für alternative Streitbeilegungsverfahren, bei denen ebenfalls eine Online-Abwickelung möglich sein sollte, so etwa bei den Tätigkeiten von Schiedsstellen und Friedensrichtern sowie bei der öffentlichen Mediation. |
3.44. |
In Bezug auf die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden und den Agenturen und Einrichtungen der EU bei der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität stellt die Kommission zurecht fest, dass die Kapazitäten für die digitale Zusammenarbeit ausgebaut werden müssen. |
3.45. |
Es gab daher die Erwartung, dass die Kommission in ihrer Mitteilung ein entsprechendes Modell festlegt und Mittel für dieses wichtige Ziel in Aussicht stellt; sie äußert aber nur den frommen Wunsch, dass sich Eurojust, die EUStA, OLAF und Europol „auf einen gemeinsamen Ansatz einigen, der eine reibungslose und sichere Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten […] gewährleistet“. |
3.46. |
In einem so wichtigen Bereich sollte die Kommission jedoch einen Zeithorizont für die Festlegung eines Kooperationsmodells vorgeben und sich zur Vorlage eines Rechtsinstruments (möglicherweise einer Richtlinie) zur Einführung eines auf der Digitalisierung basierenden Mechanismus verpflichten, statt nur den Wunsch nach Verständigung zwischen den Institutionen zu äußern. |
3.47. |
Der EWSA begrüßt die von der Kommission in ihrer Mitteilung formulierte Absicht, die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung geeigneter IT-Systeme und der Festlegung einer Strategie zur Digitalisierung der Justiz in der EU im Rahmen der neuen Programme „Justiz“ und „Digitales Europa“ finanziell zu unterstützen. |
3.48. |
Das Haupthindernis für die Digitalisierung sind nicht die Justizbehörden oder die Bürger, sondern die fehlenden Ressourcen in den Mitgliedstaaten, um digitale Plattformen und elektronische Werkzeuge im Justizbereich zu schaffen und einzuführen. |
3.49. |
Aus diesem Grund und insbesondere auch angesichts der derzeitigen Krise — die die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten nicht nur kurzfristig, sondern auch auf lange Sicht schwer in Mitleidenschaft zieht — müssen dringend Lösungen zur Finanzierung dieser Maßnahmen gefunden werden. Es ist sicherzustellen, dass die Digitalisierung der Justiz mit der notwendigen Geschlossenheit und Einheitlichkeit umgesetzt wird. Nur so kann eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf europäischer Ebene erreicht werden. |
3.50. |
Hervorzuheben ist die Feststellung der Kommission, dass für dieses so wichtige Ziel — nämlich die Nutzung der Digitalisierung für die Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der EU — Mittel im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität bereitgestellt werden sollen. |
3.51. |
Beruhigend ist zudem, dass das in einem Verordnungsvorschlag des Europäischen Parlaments und des Rates vorgesehene Instrument für technische Unterstützung nach Ansicht der Kommission den Mitgliedstaaten Hilfe bei der Durchführung von Justizreformen bietet, was natürlich auch mit den hier bereits erwähnten Investitionen für den digitalen Wandel verbunden ist. |
3.52. |
Da die Kommission der Ansicht ist, dass die derzeitige grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Papierform zahlreiche Mängel aufweist, die sich nachteilig auf die Wirksamkeit und Kosten von Gerichtsverfahren auswirken, sollte die elektronische Übermittlung unbedingt zum Standardkanal für die Kommunikation und den Dokumentenaustausch werden. |
3.53. |
Es wäre möglich, ein dezentrales IT-System einzurichten, um nationale Systeme miteinander zu verbinden und so Dokumente schneller und sicherer elektronisch austauschen zu können. In diesem Zusammenhang müssen bei der Übermittlung von Dokumenten und der Beweiserhebung der Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre berücksichtigt werden. |
3.54. |
Die generelle Einführung und Verbreitung elektronischer Verfahren für die Bearbeitung von Fällen, die papierlose Kommunikation zwischen Gerichten und anderen Stellen und Diensten sowie die Übermittlung von Schriftsätzen im Multimedia-Format durch Justizvertreter sind wesentliche Maßnahmen für die Digitalisierung der Justiz. |
3.55. |
Die Kommission wird jedoch darauf hingewiesen, dass den Angehörigen der Rechtsberufe die notwendigen Instrumente an die Hand gegeben werden müssen, um die gewünschten Maßnahmen umzusetzen, und zwar durch IT-Schulungen und Spezialisierungskurse für die Nutzung bestimmter elektronischer Anwendungen und Plattformen — was zwangsläufig auch mit Kosten verbunden sein wird. |
3.56. |
Davon ausgenommen werden sollten allerdings Mitgliedstaaten, gegen die ein Verfahren wegen Grundrechtsverletzungen oder Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit läuft.
|
3.57. |
Die derzeitigen Bemühungen um einen Wandel bieten eine solide Grundlage für die größere Mobilisierung technologischer Kapazitäten durch neue Technologien für den Aufbau eines Justizökosystems, das digital funktioniert und zugleich auf den Menschen ausgerichtet ist. |
3.58. |
Der EWSA sieht Änderungen der Rechtsvorschriften mit großem Interesse entgegen, die die angestrebte Digitalisierung der Justiz ermöglichen würden, so etwa im Falle der Akzeptanz der elektronischen Identifizierung für die digitale Übermittlung von Gerichtsdokumenten und der Zulässigkeit elektronischer oder elektronisch übermittelter Dokumente als Beweismittel in Gerichtsverfahren. |
Brüssel, den 27. April 2021
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) COM(2020) 712 final.
(2) Siehe EWSA-Stellungnahme (ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 67).