Beschluss des Europäischen Parlaments vom 15. Juni 2017 über den Antrag auf Aufhebung der Immunität von Marine Le Pen (2017/2021(IMM))
Das Europäische Parlament,
– unter Hinweis auf den am 9. Dezember 2016 von Pascal Guinot, Generalstaatsanwalt bei der Cour d’appel von Aix-en-Provence, übermittelten und am 19. Januar 2017 im Plenum bekannt gegebenen Antrag auf Aufhebung der Immunität von Marine Le Pen,
– unter Hinweis auf die Einladung von Marine Le Pen zu einer Anhörung am 29. Mai 2017 und am 12. Juni 2017 gemäß Artikel 9 Absatz 6 seiner Geschäftsordnung,
– gestützt auf die Artikel 8 und 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union und auf Artikel 6 Absatz 2 des Aktes vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments,
– unter Hinweis auf die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 12. Mai 1964, 10. Juli 1986, 15. und 21. Oktober 2008, 19. März 2010, 6. September 2011 und 17. Januar 2013(1),
– unter Hinweis auf Artikel 23 Absatz 1, Artikel 29 Absatz 1, Artikel 30 und Artikel 31 Absatz 1 des Gesetzes vom 29. Juli 1881 sowie auf Artikel 93-2 und Artikel 93-3 des Gesetzes vom 29 Juli 1982,
– gestützt auf Artikel 5 Absatz 2, Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 9 seiner Geschäftsordnung,
– gestützt auf den Bericht des Rechtsausschusses (A8-0223/2017),
A. in der Erwägung, dass der Staatsanwalt bei dem Berufungsgericht in Aix-en-Provence den Antrag gestellt hat, die Immunität von Marine Le Pen, Mitglied des Europäischen Parlaments, im Zusammenhang mit einer möglichen Anklage wegen einer mutmaßlichen Straftat aufzuheben;
B. in der Erwägung, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union nicht wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung in ein Ermittlungsverfahren verwickelt, festgenommen oder verfolgt werden dürfen;
C. in der Erwägung, dass Mitgliedern des Europäischen Parlaments gemäß Artikel 9 des Protokolls Nr. 7 im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zusteht;
D. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 26 Absatz 2 der Verfassung der Französischen Republik kein Mitglied des Parlaments ohne Genehmigung der Kammer, der es angehört, wegen eines Verbrechens oder Vergehens verhaftet oder anderweitig seiner Freiheit beraubt oder in seiner Freiheit eingeschränkt werden darf, wobei diese Genehmigung bei einem bei Begehung festgestellten Verbrechen oder Vergehen oder bei einer rechtskräftigen Verurteilung nicht erforderlich ist,
E. in der Erwägung, dass Marine Le Pen die öffentliche Verleumdung eines Bürgers, der ein öffentliches Mandat ausübt (strafbar nach französischem Recht gemäß Artikel 23 Absatz 1, Artikel 29 Absatz 1, Artikel 30 und Artikel 31 Absatz 1 des Gesetzes vom 29. Juli 1881 sowie nach Artikel 93-2 und Artikel 93-3 des Gesetzes vom 29. Juli 1982), vorgeworfen wird;
F. in der Erwägung, dass Christian Estrosi am 28. Juli 2015 eine Anzeige mit zivilrechtlicher Nebenklage beim dienstältesten Ermittlungsrichter von Nizza gegen Marine Le Pen wegen öffentlicher Verleumdung eines Bürgers, der vorübergehend ein öffentliches Mandat ausübt, erstattet hat; in der Erwägung, dass Christian Estrosi ausgesagt hat, dass Marine Le Pen am 3. Mai 2015 in der gleichzeitig von iTÉLÉ und Europe 1 ausgestrahlten Sendung „Le Grand Rendez-Vous “ die folgenden Tatsachenbehauptungen aufgestellt habe, die seine Ehre und sein Ansehen verletzt hätten:
„Hören sie, was ich weiß, ist, dass Herr Estrosi von der UOIF (Union islamischer Organisationen in Frankreich) finanziert wird. Er ist nämlich vom Verwaltungsgericht verurteilt worden, weil er einer Moschee der UOIF eine dermaßen niedrige Miete berechnet hat, dass selbst das Verwaltungsgericht ihm auf die Finger geklopft hat. Das weist darauf hin, wie diese Bürgermeister unter Verstoß gegen das Gesetz von 1905 illegal Moscheen finanzieren. Wenn man nun aber auf frischer klientelistischer Tat erwischt wird, indem man das Geld von Religionsgemeinschaften annimmt, ist es klar, dass man sehr laut schreien und Worte benutzen muss, die schockieren, aber für mich sind nicht die Worte wichtig, sondern die Taten ...“; auf die Frage des Interviewers: „Ist Estrosi also ein Komplize der Dschihadisten?“, habe Marine Le Pen geantwortet: „Hilfe, Bereitstellung von Mitteln, Unterstützung: Wenn man den islamistischen Fundamentalisten hilft, sich niederzulassen, ihre Lehren zu verbreiten, Anhänger zu rekrutieren, ja, dann ist man in gewisser Weise auch ihr moralischer Komplize“;
G. in der Erwägung, dass Marine Le Pen zweimal gemäß Artikel 9 Absatz 6 der Geschäftsordnung zu einer Anhörung geladen wurde; in der Erwägung, dass sie diese Gelegenheit jedoch nicht genutzt hat, um dem zuständigen Ausschuss ihre Sichtweise zur Kenntnis zu bringen;
H. in der Erwägung, dass die mutmaßliche Tat keinen unmittelbaren und offenkundigen Zusammenhang mit der Ausübung des Amtes von Marine Le Pen als Mitglied des Europäischen Parlaments hat und dass es sich bei den genannten Äußerungen auch nicht um in Ausübung des Amtes erfolgte Äußerungen oder Abstimmungen im Sinne von Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union handelt;
I. in der Erwägung, dass im Hinblick auf Artikel 8 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union die Vorwürfe offenkundig nicht in Zusammenhang mit der Stellung von Marine Le Pen als Mitglied des Europäischen Parlaments stehen, sondern stattdessen vielmehr Tätigkeiten betreffen, die lediglich nationaler bzw. regionaler Art sind, und in der Erwägung, dass Artikel 8 deshalb hier nicht gilt;
J. in der Erwägung, dass es lediglich möglich ist, die Immunität gemäß Artikel 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union aufzuheben;
K. in der Erwägung, dass im Hinblick auf Artikel 9 des Protokolls Nr. 7 über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union kein Anlass zu der Annahme besteht, dass der Antrag gestellt wurde, um die parlamentarische Arbeit von Marine Le Pen zu behindern oder ihrer politischen Tätigkeit zu schaden (fumus persecutionis);
1. beschließt, die Immunität von Marine Le Pen aufzuheben;
2. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht seines zuständigen Ausschusses unverzüglich der zuständigen Behörde der Republik Frankreich und Marine Le Pen zu übermitteln.
Urteil des Gerichtshofs vom 12. Mai 1964, Wagner/Fohrmann und Krier, 101/63, ECLI:EU:C:1964:28; Urteil des Gerichtshofs vom 10. Juli 1986, Wybot/Faure und andere, 149/85, ECLI:EU:C:1986:310; Urteil des Gerichts vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T-345/05, ECLI:EU:T:2008:440; Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2008, Marra/De Gregorio und Clemente, C-200/07 und C-201/07, ECLI:EU:C:2008:579; Urteil des Gerichts vom 19. März 2010, Gollnisch/Parlament, T‑42/06, ECLI:EU:T:2010:102; Urteil des Gerichtshofs vom 6. September 2011, Patriciello, C-163/10, ECLI:EU:C:2011:543; Urteil des Gerichts vom 17. Januar 2013, Gollnisch/Parlament, T-346/11 und T-347/11, ECLI:EU:T:2013:23.