Beschlussfassungsverfahren auf supranationaler Ebene
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich darauf geeinigt, als Folge ihrer Mitgliedschaft in der EU einige ihrer Befugnisse in bestimmten Politikbereichen an die EU-Organe abzutreten. Aus diesem Grund fassen die Organe der EU verbindliche supranationale Beschlüsse in ihren Gesetzgebungs- und Ausführungsverfahren sowie Haushalts-, Ernennungs- und verfassungsähnlichen Verfahren.
Geschichte (1.1.1, 1.1.2, 1.1.3, 1.1.4 und 1.1.5)
Mit dem Vertrag von Rom wurden der Kommission Vorschlags- und Verhandlungsbefugnisse – vor allem bei der Gesetzgebung und den wirtschaftlichen Außenbeziehungen – übertragen, und der Rat oder – für Ernennungen – die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten erhielten Befugnisse zur Beschlussfassung. Das Parlament erhielt eine Anhörungsbefugnis. Die Rolle des Europäischen Parlaments wurde schrittweise ausgebaut, und zwar im Haushaltsbereich mit den Reformen von 1970 und 1975 und im legislativen Bereich durch die Einheitliche Europäische Akte und sämtliche nachfolgenden Verträge, in erster Linie durch den Vertrag von Maastricht, mit dem das Verfahren der Mitentscheidung mit dem Rat eingeführt und auch die Aufgaben des Parlaments im Zusammenhang mit Ernennungen erweitert wurden. Ferner erhielt das Parlament mit der Einheitlichen Europäischen Akte die Befugnis, die Ratifizierung von Beitritts- und Assoziierungsabkommen zu genehmigen. Diese Befugnis wurde im Vertrag von Maastricht auch auf bestimmte weitere internationale Abkommen ausgedehnt. Der Vertrag von Amsterdam stellte durch die Vereinfachung des Mitentscheidungsverfahrens, dessen Ausweitung auf neue Bereiche und die Stärkung der Rolle des Parlaments bei der Ernennung der Kommission einen bedeutenden Fortschritt in Richtung einer Demokratisierung der Gemeinschaft dar. Ein weiterer Schritt in diese Richtung war der Vertrag von Nizza, mit dem die Befugnisse des Parlaments erheblich erweitert wurden. Einerseits wurde das Mitentscheidungsverfahren (bei dem das Parlament dieselben Befugnisse hat wie der Rat) auf fast alle neuen Bereiche ausgeweitet, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen konnte. Andererseits erhielt das Parlament die Befugnis, den Gerichtshof unter denselben Voraussetzungen anzurufen wie ein Mitgliedstaat. Der Vertrag von Lissabon stellt einen weiteren qualitativen Schritt hin zu einer völligen Gleichstellung mit dem Rat in Sachen EU-Rechtsetzung und Finanzen dar.
Legislativverfahren[1]
A. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Artikel 289 und 294 AEUV)
1. Anwendungsbereich
Durch den Vertrag von Lissabon sind weitere 40 Rechtsgrundlagen hinzugekommen, insbesondere in den Bereichen Freiheit, Sicherheit und Recht sowie Landwirtschaft, bei denen das Parlament nun mit dem Rat gleichgestellt über Gesetzgebungsakte beschließen kann. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, vormals Mitentscheidungsverfahren, ist somit auf 85 Rechtsgrundlagen anwendbar. Es umfasst die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit (BQM) im Rat (Artikel 294 AEUV). In mehreren wichtigen Bereichen, in denen Einstimmigkeit im Rat erforderlich ist, wie etwa Steuerpolitik in Bezug auf direkte Steuern oder länderübergreifende Aspekte des Familienrechts, erfolgt die Beschlussfassung hingegen nicht im Wege dieses Verfahrens.
2. Ablauf des Verfahrens
Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren läuft in den gleichen Schritten wie das frühere Mitentscheidungsverfahren ab. Allerdings hat sich der Wortlaut des AEUV erheblich geändert, vor allem um die gleichberechtigte Rolle von Rat und Parlament in diesem Verfahren zu unterstreichen.
a. Vorschlag der Kommission
b. Erste Lesung des Parlaments
Das Parlament legt seinen Standpunkt mit einfacher Mehrheit fest.
c. Erste Lesung des Rates
Der Rat legt seinen Standpunkt durch Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit fest.
In den Bereichen soziale Sicherheit und polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen kann der Vorschlag dem Europäischen Rat auf Antrag eines Mitgliedstaats vorgelegt werden (Artikel 48 und 82 AEUV). Daraufhin wird das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt, bis der Europäische Rat das Verfahren an den Rat zurückverweist (spätestens nach vier Monaten). Kommt Artikel 82 zur Anwendung, können mindestens neun Mitgliedstaaten beschließen, die Beratungen im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit fortzusetzen (Artikel 20 EUV und Artikel 326 bis 334 AEUV).
Stimmt der Rat dem Standpunkt des Parlaments zu, gilt der Rechtsakt in dem Wortlaut, der dem Standpunkt des Parlaments entspricht, als erlassen.
d. Zweite Lesung des Parlaments
Nachdem der Standpunkt des Rates übermittelt wurde, hat das Parlament drei Monate Zeit, Stellung zu nehmen. Es kann sodann:
- den Vorschlag in der durch den Rat geänderten Fassung billigen oder sich nicht äußern. In beiden Fällen gilt der durch den Rat geänderte Rechtsakt als erlassen;
- den Standpunkt des Rates mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder ablehnen. Der Rechtsakt gilt dann als nicht erlassen und das Verfahren endet;
- Abänderungen am Standpunkt des Rates, zu denen dann die Kommission und der Rat eine Stellungnahme abgeben, mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder annehmen.
e. Zweite Lesung des Rates
- Wenn der Rat, der über die Abänderungen des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit entscheidet und über Abänderungen, zu denen die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hat, einstimmig entscheidet, binnen drei Monaten nach Eingang alle Abänderungen des Parlaments billigt, gilt der betreffende Rechtsakt als erlassen.
- Ist dies nicht der Fall, wird der Vermittlungsausschuss binnen sechs Wochen einberufen.
f. Vermittlung
- Der Vermittlungsausschuss setzt sich aus Vertretern des Rates und des Parlaments in gleicher Zahl zusammen, die von der Kommission unterstützt werden. Er prüft den Standpunkt des Parlaments und des Rates. Ihm stehen sechs Wochen zur Verfügung, um sich auf einen gemeinsamen Entwurf zu einigen, den die Vertreter des Rates, die mit qualifizierter Mehrheit abstimmen, und eine Mehrheit der Vertreter des Parlaments billigen.
- Das Verfahren endet und der Rechtsakt wird nicht erlassen, wenn der Ausschuss sich bis zum Ende der Frist nicht auf einen gemeinsamen Entwurf einigt.
- Billigt der Ausschuss einen gemeinsamen Entwurf, so wird dieser dem Rat und dem Parlament zur Annahme vorgelegt.
g. Abschluss des Verfahrens (dritte Lesung)
- Der Rat und das Parlament haben sechs Wochen Zeit, den gemeinsamen Entwurf zu billigen. Der Rat entscheidet dabei mit qualifizierter Mehrheit und das Parlament mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
- Der Rechtsakt gilt als erlassen, wenn Rat und Parlament den Entwurf billigen.
- Nimmt eines der beiden Organe den vorgeschlagenen Rechtsakt nicht innerhalb dieser Frist an, so gilt er als nicht erlassen.
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der auf der Grundlage informeller Verhandlungen zwischen Rat und Parlament erzielten Einigungen in erster Lesung erheblich gestiegen.
Einige Brückenklauseln gestatten es dem Europäischen Rat, die Anwendung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf Bereiche auszuweiten, die davon ausgenommen sind (beispielsweise die Sozialpolitik – Artikel 153 Absatz 2 AEUV).
B. Konsultationsverfahren
Der Rat muss vor seiner Beschlussfassung Kenntnis von der Stellungnahme des Europäischen Parlaments und gegebenenfalls den Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Europäischen Ausschusses der Regionen nehmen. Diese Anhörung ist insofern zwingend vorgeschrieben, da ihr Fehlen die Rechtswidrigkeit des Rechtsakts zur Folge hat und dieser vom Gerichtshof aufgehoben werden kann (Urteil in den Rechtssachen 138 und 139/79). Wenn der Rat beabsichtigt, den vorgeschlagenen Rechtsakt in wesentlichen Punkten zu ändern, hat er erneut das Parlament anzuhören (Urteil in der Rechtssache 65/90).
C. Zustimmungsverfahren
1. Anwendungsbereich
Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon umfasst der Anwendungsbereich des Zustimmungsverfahrens insbesondere die horizontale Flexibilitätsklausel in Bezug auf den Haushalt gemäß Artikel 352 AEUV (vormals Artikel 308 EGV). Weitere Anwendungsfälle sind Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung (Artikel 19 Absatz 1 AEUV) und die Unionsmitgliedschaft (Artikel 49 und 50 EUV). Außerdem ist die Zustimmung des Parlaments zu Assoziierungsabkommen (Artikel 217 AEUV), zum Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Artikel 6 Absatz 2 EUV) und zu Übereinkünften, die einen besonderen institutionellen Rahmen schaffen, Übereinkünften mit erheblichen finanziellen Folgen, oder zu Übereinkünften in Bereichen erforderlich, in denen das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt (Artikel 218 Absatz 6 AEUV).
2. Ablauf des Verfahrens
Das Europäische Parlament prüft einen ihm vom Rat zugeleiteten Entwurf eines Rechtsaktes. Es beschließt mit der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen über dessen Annahme (ohne die Möglichkeit, den Rechtsakt zu ändern). In den Phasen vor dem Verfahren (Prüfung des Vorschlags der Kommission) sieht der Vertrag keine formelle Rolle für das Parlament vor. Informell ist seine Beteiligung jedoch aufgrund interinstitutioneller Vereinbarungen gängige Praxis (siehe Geschäftsordnung des Parlaments).
Ernennungsverfahren
- Das Parlament wählt den Präsidenten der Kommission (Artikel 14 Absatz 1 EUV) (1.3.8).
- Der Europäische Rat ernennt mit qualifizierter Mehrheit den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik (Artikel 18 Absatz 1 EUV).
- Der Rat nimmt, im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten, mit qualifizierter Mehrheit die Liste der anderen Persönlichkeiten an, die er als Mitglieder der Kommission vorschlägt (Artikel 17 Absatz 7 EUV).
- Der Rat nimmt Folgendes an:
- Das Europäische Parlament wählt den Europäischen Bürgerbeauftragten (Artikel 228 AEUV).
Abschluss internationaler Abkommen
Dadurch, dass die Union Rechtspersönlichkeit erlangt hat, ist sie in der Lage, internationale Abkommen abzuschließen (Artikel 218 AEUV). Gemäß dem Vertrag von Lissabon ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments zu allen Abkommen erforderlich, die im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik sowie in all jenen Politikbereichen abgeschlossen werden, die innerhalb der EU unter das ordentliche Gesetzgebungsverfahren fallen würden. Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit, außer im Falle von Assoziierungs- bzw. Beitrittsabkommen, Abkommen, die die kulturelle und sprachliche Vielfalt der Union beeinträchtigen könnten, und solchen Abkommen, bei denen für die Annahme interner Vorschriften Einstimmigkeit erforderlich wäre.
- Ablauf des Verfahrens: Die Kommission oder der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik legt dem Rat Empfehlungen vor, der Rat legt das Mandat für die Verhandlungen fest und ernennt den Verhandlungsführer der Union (seitens der Kommission bzw. des Hohen Vertreters), um die Verhandlungen zu führen. Das Europäische Parlament wird in allen Phasen des Verfahrens unverzüglich und umfassend unterrichtet (Artikel 218 Absatz 10 AEUV).
- Beschluss: Rat, durch Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit (BQM), außer in den oben genannten Bereichen.
- Rolle des Parlaments: Zustimmung bei den meisten Abkommen (siehe oben), Konsultation bei Abkommen, die ausschließlich in den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik fallen.
Verfassungsähnliche Verfahren
A. System der Eigenmittel (Artikel 311 AEUV)
- Vorschlag: Kommission
- Rolle des Parlaments: Konsultation
- Beschluss: Der Rat beschließt einstimmig vorbehaltlich der Annahme durch die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften.
B. Bestimmungen hinsichtlich der allgemeinen, unmittelbaren Wahl des Europäischen Parlaments (Artikel 223 AEUV)
- Vorschlag: Parlament
- Beschluss: Der Rat beschließt einstimmig nach Zustimmung des Parlaments und nach der Empfehlung an die Mitgliedstaaten, die Bestimmungen gemäß ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften anzunehmen.
C. Annahme des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments (Artikel 223 Absatz 2 AEUV) und des Statuts des Bürgerbeauftragten (Artikel 228 Absatz 4 AEUV)
- Vorschlag: Parlament
- Rolle der Kommission: Stellungnahme
- Rolle des Rates: Zustimmung (mit qualifizierter Mehrheit, ausgenommen bei Vorschriften und Bedingungen, die die Steuerregelung für Mitglieder oder ehemalige Mitglieder betreffen, für die Einstimmigkeit gilt)
- Beschluss: Parlament
D. Änderung des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs (Artikel 281 AEUV)
- Vorschlag: Gerichtshof (nach Anhörung der Kommission) oder Kommission (nach Anhörung des Gerichtshofs)
- Beschluss: Rat und Parlament (ordentliches Gesetzgebungsverfahren)
Rolle des Europäischen Parlaments
Bei der Regierungskonferenz im Jahr 2000 legte das Europäische Parlament mehrere Vorschläge zur Ausweitung des Anwendungsbereichs des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens (vormals „Mitentscheidungsverfahren“) vor. Überdies bekräftigte das Parlament wiederholt seine Auffassung, dass bei einem Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit automatisch das Mitentscheidungsverfahren Anwendung finden müsse. Mit dem Vertrag von Nizza wurde dieser Standpunkt aufgegriffen, ohne jedoch die qualifizierte Mehrheit und das Mitentscheidungsverfahren vollständig aneinander zu koppeln. Daher war die Frage der Vereinfachung der Verfahren eines der zentralen Anliegen des Konvents über die Zukunft Europas. Es wurde vorgeschlagen, das Kooperationsverfahren und das Konsultationsverfahren abzuschaffen und das Mitentscheidungsverfahren zu vereinfachen und auf den gesamten Gesetzgebungsbereich auszuweiten sowie das Zustimmungsverfahren auf die Ratifizierung internationaler Abkommen zu begrenzen. Viele dieser Neuerungen wurden mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft gesetzt (1.1.5).
Was Ernennungen betrifft, so ist es mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht gelungen, der Vielfalt der Verfahren ein Ende zu bereiten, wenngleich eine gewisse Straffung erreicht werden konnte. Noch immer ist in einigen Fällen Einstimmigkeit erforderlich, was zu politischen Auseinandersetzungen führen kann und den Einfluss des Parlaments schwächt. Fortschritte sind insbesondere nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Nizza mit dem Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit bei der Ernennung des Präsidenten der Kommission erzielt worden. Zudem sieht der Vertrag von Lissabon die Wahl des Präsidenten der Kommission durch das Parlament vor. Bei der Ernennung des gewählten Präsidenten der Kommission muss, nach angemessener Anhörung des Parlaments, das Ergebnis der Wahl zum Europäischen Parlament gebührend berücksichtigt werden. Dies unterstreicht die politische Legitimität und die Rechenschaftspflicht der Europäischen Kommission. Nach der Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 sind diese Regelungen zum ersten Mal angewendet worden. Der Europäische Rat einigte sich auf die Ernennung von Jean-Claude Juncker zum Präsidenten der Europäischen Kommission, da die Europäische Volkspartei (EVP) nach der Wahl die größte Fraktion im Europäischen Parlament war.
Martina Schonard