Quellen und Geltungsbereich des Rechts der Europäischen Union

Die Europäische Union besitzt Rechtspersönlichkeit und verfügt über eine eigenständige Rechtsordnung, die sich vom Völkerrecht unterscheidet. Das EU-Recht wirkt sich direkt oder indirekt auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aus und wird Teil der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten. Die Europäische Union ist selbst rechtsetzend tätig. Die Rechtsordnung der EU wird gewöhnlich in das Primärrecht (Verträge und allgemeine Rechtsgrundsätze), das Sekundärrecht (aus den Verträgen abgeleitetes Recht) und das Komplementärrecht unterteilt.

Quellen und Hierarchie des Unionsrechts

  • Der Vertrag über die Europäische Union (EUV), der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und die dazugehörigen Protokolle (es gibt 37 Protokolle, zwei Anhänge und 65 Erklärungen, die den Verträgen beigefügt sind, um Einzelheiten zu ergänzen, ohne Bestandteil des Rechtstextes zu sein) 1.1.5;
  • Charta der Grundrechte der Europäischen Union 4.1.2;
  • Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), der weiterhin als ein gesonderter Vertrag in Kraft ist;
  • Internationale Übereinkünfte 5.2.1;
  • Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts;
  • Sekundärrecht.

Die Europäische Union beruht auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und hat ein vollständiges System an Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, die so konzipiert sind, dass der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte der Organe der EU überprüfen kann (Artikel 263 AEUV). Die Verträge und allgemeinen Grundsätze stehen auf der höchsten Stufe der Normenhierarchie und werden als Primärrecht bezeichnet. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 zählt auch die Charta der Grundrechte zum Primärrecht. Die von der Europäischen Union geschlossenen internationalen Übereinkünfte stehen unter dem Primärrecht. Unterhalb dieser Ebene steht das Sekundärrecht. Dieses ist nur dann gültig, wenn es mit den höherrangigen Rechtsakten und Übereinkünften vereinbar ist. Die Doktrin des Vorrangs des EU-Rechts ist ein Grundpfeiler der Rechtsordnung der EU, mit dem die Einheit und Kohärenz des EU-Rechts sichergestellt werden sollen. Der EuGH hat förmlich bekräftigt, dass das EU-Recht absoluten Vorrang vor den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten hat und dass dies von den nationalen Gerichten bei ihren Entscheidungen berücksichtigt werden muss. Er hat bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Unionsrecht und dem innerstaatlichen Recht stets die oberste Autorität beansprucht. In den wegweisenden Rechtssachen van Gend en Loos/Nederlandse Administratie der Belastingen und Costa/ENEL hat der EuGH die Grunddoktrinen der unmittelbaren Wirkung und des Vorrangs des EU-Rechts entwickelt. Der EuGH hat diese Doktrinen in späteren Rechtssachen beibehalten. Insbesondere in der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft machte er geltend, dass das EU-Recht auch gegenüber den in nationalen Verfassungen garantierten Grundrechten Vorrang genießt.

Ziele

Schaffung einer Rechtsordnung der EU als Grundlage für die Verwirklichung der in den Verträgen verankerten Ziele.

Rechtsquellen der Europäischen Union

A. Primärrecht der Europäischen Union 1.1.1, 1.1.2, 1.1.3, 1.1.4, 1.1.5, 4.1.2

B. Sekundärrecht der Europäischen Union

1. Allgemeines

Die Rechtsakte der Union werden in Artikel 288 AEUV aufgeführt. Dabei handelt es sich um Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen. Die EU-Organe können derartige Rechtsakte nur erlassen, wenn sie durch die Verträge dazu ermächtigt sind. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, der für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt, ist in Artikel 5 Absatz 1 EUV verankert. Der Umfang der Zuständigkeiten der EU ist im AEUV festgelegt, in dem zwischen drei Arten von Zuständigkeiten unterschieden wird, und zwar der ausschließlichen Zuständigkeit (Artikel 3), der geteilten Zuständigkeit (Artikel 4) und der unterstützenden Zuständigkeit (Artikel 6), bei der die EU Maßnahmen zur Unterstützung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten erlässt. Die Bereiche, auf die sich diese drei Arten von Zuständigkeiten erstrecken, sind in den Artikeln 3, 4 und 6 AEUV aufgeführt. Verfügen die Organe nicht über die erforderlichen Befugnisse, um eines der in den Verträgen festgelegten Ziele zu verwirklichen, so können sie die Bestimmungen von Artikel 352 AEUV anwenden und die „geeigneten Vorschriften“ erlassen.

Die Organe nehmen nur die in Artikel 288 AEUV aufgezählten Rechtsinstrumente an. Einzige Ausnahme bleibt der Bereich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der noch der Regierungszusammenarbeit unterliegt. In diesem Bereich wurden die gemeinsamen Strategien, die gemeinsamen Aktionen und die gemeinsamen Standpunkte von „allgemeinen Leitlinien“ und „Beschlüsse[n] [...] zur Festlegung“ der von der EU durchzuführenden Aktionen, der von der Union einzunehmenden Standpunkte und der Einzelheiten der Durchführung dieser Beschlüsse abgelöst (Artikel 25 EUV).

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, Empfehlungen und Mitteilungen herauszugeben sowie Rechtsakte anzunehmen, die sich auf die Organisation und die Arbeitsweise der Organe beziehen (einschließlich interinstitutioneller Vereinbarungen), deren Bezeichnung, Struktur und Rechtswirkungen sich aus den einzelnen Bestimmungen der Verträge oder den gemäß den Verträgen erlassenen Vorschriften ergeben.

2. Hierarchie des Sekundärrechts der EU

Durch die Artikel 289, 290 und 291 AEUV wurde eine Hierarchie des Sekundärrechts geschaffen, indem eine genaue Abgrenzung zwischen Gesetzgebungsakten, delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten eingeführt wurde. Als Gesetzgebungsakte werden Rechtsakte bezeichnet, die im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren oder einem besonderen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden. Dagegen handelt es sich bei delegierten Rechtsakten um nichtlegislative Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften eines Gesetzgebungsakts. Die Befugnis, delegierte Rechtsakte zu erlassen, kann der Kommission durch den Gesetzgeber (Parlament und Rat) übertragen werden. Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung sowie gegebenenfalls Dringlichkeitsverfahren werden im Gesetzgebungsakt festgelegt. Ferner legt der Gesetzgeber die Bedingungen fest, nach denen die Übertragung erfolgt, so zum Beispiel das Recht auf Widerruf der Übertragung und das Recht, Einwände zu erheben.

Durchführungsrechtsakte werden in der Regel von der Kommission erlassen, die dazu in den Fällen befugt ist, in denen einheitliche Bedingungen für die Durchführung von verbindlichen Rechtsakten vonnöten sind. Nur in begründeten Ausnahmefällen und in Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden Durchführungsrechtsakte vom Rat erlassen. Wird ein Basisrechtsakt nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen, so können das Europäische Parlament oder der Rat die Kommission jederzeit darauf hinweisen, dass der Entwurf des betreffenden Durchführungsrechtsakts ihres Erachtens über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgeht. In diesem Fall muss die Kommission den betreffenden Entwurf eines Rechtsakts überarbeiten.

3. Die verschiedenen Arten des EU-Sekundärrechts

a. Verordnungen

Die Verordnung hat allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar. Sie ist in vollem Umfang von ihren Adressaten (Einzelpersonen, Mitgliedstaaten, EU-Organen) zu befolgen. Die Verordnung gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat ab Inkrafttreten (zum festgelegten Zeitpunkt oder, in Ermangelung eines solchen, am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union), ohne dass es eines nationalen Umsetzungsakts bedarf.

Die Verordnung dient der Sicherstellung einer einheitlichen Anwendung des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten. Zugleich verdrängt sie einzelstaatliche Normen, die mit den in ihr enthaltenen materiell rechtlichen Bestimmungen unvereinbar sind.

b. Richtlinien

Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist (d. h. einen, mehrere oder alle Mitgliedstaaten), hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt diesem jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Für eine Richtlinie ist ein Umsetzungsrechtsakt (auch als „nationale Umsetzungsmaßnahme“ bezeichnet) durch den nationalen Gesetzgeber erforderlich, mit dem die Richtlinie umgesetzt und das nationale Recht an die in der entsprechenden Richtlinie festgelegten Ziele angepasst wird. Die Übertragung von Rechten und Pflichten auf den einzelnen Bürger erfolgt erst durch Annahme des Umsetzungsrechtsakts. Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Umsetzung von Richtlinien über einen gewissen Ermessensspielraum, um den jeweiligen nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Die Umsetzung muss innerhalb der in der Richtlinie festgesetzten Frist erfolgen. Bei der Umsetzung von Richtlinien müssen die Mitgliedstaaten gemäß dem in Artikel 4 Absatz 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Wirksamkeit des Unionsrechts sicherstellen.

Richtlinien sind in der Regel nicht unmittelbar anwendbar. Der EuGH hat jedoch entschieden, dass auch einzelne Bestimmungen einer Richtlinie ausnahmsweise in einem Mitgliedstaat direkte Wirkung haben können, ohne dass es zuvor eines Umsetzungsakts dieses Mitgliedstaats bedarf, sofern folgende Bedingungen erfüllt sind: a) die Umsetzung der Richtlinie in das nationale Recht hat nicht stattgefunden oder wurde nicht ordnungsgemäß vollzogen, b) die Bestimmungen der Richtlinie sind zwingend und hinreichend klar und genau und c) die Bestimmungen der Richtlinie verleihen dem Einzelnen Rechte.

Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen kann sich der Einzelne demnach gegenüber den Behörden auf die Richtlinienbestimmung berufen. Auch dann, wenn die Bestimmung dem Einzelnen keine Rechte verleiht und somit nur die erste und zweite Voraussetzung erfüllt sind, haben die Behörden der Mitgliedstaaten die Pflicht, die nicht umgesetzte Richtlinie zu berücksichtigen. Dabei stützt sich die Rechtsprechung hauptsächlich auf die Grundsätze der Wirksamkeit, der Vermeidung von Vertragsverletzungen und des Rechtsschutzes. Hingegen kann sich ein Bürger zulasten eines anderen Bürgers (sogenannte „horizontale“ Wirkung) nicht auf die unmittelbare Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie berufen: Faccini Dori/Recreb Srl., Rechtssache C-91/92, Rn. 25.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Francovich und Bonifaci/Italien, verbundene Rechtssachen C-6/90 und C-9/90) können einzelne Bürger von einem Mitgliedstaat, der gegen das Unionsrecht verstoßen hat, Schadensersatz verlangen. Handelt es sich um eine Richtlinie, die nicht oder nicht ausreichend umgesetzt wurde, so ist es möglich, ein entsprechendes Rechtsmittel einzulegen, wenn a) die Richtlinie auf die Verleihung von Rechten an Einzelne abzielt, b) der Inhalt der Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden kann und c) ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die Umsetzungspflicht und dem bei dem Einzelnen eingetretenen Schaden besteht. Zur Klärung der Schuld- oder Haftungsfrage muss kein Verschulden des Mitgliedstaats nachgewiesen werden.

c. Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen

Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich. Ist ein Beschluss an bestimmte Adressaten (Mitgliedstaaten, natürliche oder juristische Personen) gerichtet, so ist er nur für diese verbindlich und dient der Regelung konkreter Sachverhalte, die diese Adressaten betreffen. Ein Einzelner kann nur dann Rechte einklagen, die durch einen an den jeweiligen Mitgliedstaat gerichteten Beschluss eingeräumt wurden, wenn dieser einen Umsetzungsakt angenommen hat. Beschlüsse können unter den gleichen Voraussetzungen wie Richtlinien unmittelbar anwendbar sein.

Empfehlungen und Stellungnahmen begründen für den Adressaten keine Rechte und Pflichten, können aber Hinweise zur Auslegung und zum Inhalt des Unionsrechts geben.

Da Klagen, die gemäß Artikel 263 AEUV gegen Mitgliedstaaten erhoben werden, Rechtsakte betreffen müssen, die von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der EU angenommen wurden, ist der EuGH nicht für Entscheidungen der Vertreter von Mitgliedstaaten zuständig, etwa im Hinblick auf die Festlegung der Standorte der Agenturen der EU. Rechtsakte, die von Vertretern der Mitgliedstaaten nicht in ihrer Funktion als Mitglieder des Rates, sondern als Vertreter ihrer Regierungen angenommen wurden, wobei sie kollektiv die Befugnisse der Mitgliedstaaten ausüben, unterliegen gemäß einem Urteil des Gerichtshofs vom 14. Juli 2022 zur Verlegung des Sitzes der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA)[1] keiner gerichtlichen Prüfung durch die Gerichte der EU. Der Gerichtshof stellte fest, dass Artikel 341 AEUV nicht für die Festlegung des Sitzes von Einrichtungen, Agenturen und sonstigen Stellen der Union, sondern nur für EU-Organe gilt. Die Zuständigkeit für die Festlegung des Sitzes einer EU-Agentur liegt beim Unionsgesetzgeber, der hierbei im Einklang mit den in den sachlich einschlägigen Bestimmungen der Verträge vorgesehenen Verfahren handeln muss. Bei der fraglichen Entscheidung handelte es sich um eine nicht verbindliche Maßnahme politischer Zusammenarbeit, die das Ermessen des Unionsgesetzgebers nicht einzuschränken vermag. In diesem Sinne wird das Ermessen des Unionsgesetzgebers oder des Europäischen Parlaments durch diese Entscheidung nicht eingeschränkt.

4. Bestimmungen über Zuständigkeiten und Verfahren und die Umsetzung und Durchführung der Rechtsakte

a. Gesetzgebungskompetenz, Initiativrecht und Gesetzgebungsverfahren: 1.3.2, 1.3.6, 1.3.8 und 1.2.3

Das Parlament, der Rat und die Kommission sind je nach Rechtsgrundlage in unterschiedlichem Maße an der Annahme der Rechtsvorschriften der Union beteiligt. Das Parlament kann die Kommission auffordern, ihm selbst oder dem Rat Legislativvorschläge vorzulegen.

b. Durchführung des Unionsrechts

Da die EU nach ihrem Primärrecht nur über begrenzte Durchführungsbefugnisse verfügt, sind in der Regel die Mitgliedstaaten für die Durchführung des Unionsrechts zuständig. Darüber hinaus findet sich in Artikel 291 Absatz 1 AEUV der Hinweis, dass die Mitgliedstaaten „alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht“ ergreifen. Bedarf es für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union jedoch einheitlicher Bedingungen, so nimmt die Kommission ihre Durchführungsbefugnisse wahr (Artikel 291 Absatz 2 AEUV).

c. Wahl der Art des Rechtsakts

In vielen Fällen legen die Verträge die Form des erforderlichen Rechtsakts fest. In vielen anderen Fällen wird die Art des Rechtsakts jedoch nicht vorgegeben. In diesen Fällen sieht Artikel 296 Absatz 1 AEUV vor, dass die Organe über die Art des zu erlassenden Rechtsakts von Fall zu Fall „unter Einhaltung der geltenden Verfahren und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ entscheiden.

C. Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts und Grundrechte

In den Verträgen wird nur am Rande auf die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts Bezug genommen. Diese Grundsätze wurden im Wesentlichen durch die Rechtsprechung des EuGH entwickelt (Rechtssicherheit, institutionelles Gleichgewicht, Vertrauensschutz usw.). Auch die Anerkennung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts gehen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zurück. Diese Grundsätze sind inzwischen in Artikel 6 Absatz 3 EUV niedergelegt, in dem auf die in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Grundrechte Bezug genommen wird, die sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten ergeben und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (4.1.2) verankert sind.

D. Von der EU nach den Artikeln 216 und 217 AEUV geschlossene internationale Übereinkünfte

Die Union kann im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Übereinkünfte mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen schließen (Artikel 216 Absatz 1 AEUV). Diese Übereinkünfte sind für die Union und die Mitgliedstaaten rechtsverbindlich und werden Bestandteil der Rechtsordnung der Union (Artikel 216 Absatz 2 AEUV). Gemäß Artikel 217 AEUV kann die EU auch Abkommen schließen, durch die eine Assoziierung mit gegenseitigen Rechten und Pflichten, gemeinsamem Handeln und besonderen Verfahren erfolgt. Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits wurde auf der Grundlage dieser Bestimmung geschlossen. Am 28. April 2021 erteilte das Parlament seine Zustimmung gemäß Artikel 218 Absatz 6a AEUV.

Gemäß der Rechtsprechung des EuGH hat das Völkerrecht Vorrang vor (sekundärem) EU-Recht: „Die Organe der Union sind, wenn von dieser Übereinkünfte geschlossen werden, nach Art. 216 Abs. 2 AEUV an solche Übereinkünfte gebunden; die Übereinkünfte haben daher gegenüber den Rechtsakten der Union Vorrang“.

E. Unabhängige Expertise und bessere Rechtsetzung

Im Jahr 2004 errichtete das Parlament fünf Fachabteilungen, die auf Ersuchen von Ausschüssen und anderen parlamentarischen Gremien unabhängige Expertise, Analysen und politische Beratung auf hohem Niveau bereitstellen. Diese unabhängige Forschung, durch die Mitglieder des Parlaments, Vertreter der Wissenschaft und Unionsbürger miteinander verbunden werden, sollte mit jeder Gesetzgebungsinitiative – von der Planung bis hin zur Bewertung ihrer Durchführung – einhergehen. Als unverzichtbarer Bestandteil der Vorbereitungsarbeiten sollte sie zu einer hohen Qualität der Rechtsvorschriften und ihrer Auslegung beitragen[2].

Mit einer optimalen EU-Gesetzgebung können jährlich potenzielle Gewinne von über 2 200 Mrd. EUR verzeichnet werden. Aus den von den Fachabteilungen für das Europäische Parlament durchgeführten Forschungsarbeiten geht hervor, dass mit spezifischen Binnenmarktinitiativen Gewinne in Höhe von 386 Mrd. EUR für den freien Warenverkehr, 189 Mrd. EUR für die Zollunion, 289 Mrd. EUR für den freien Dienstleistungsverkehr und 177 Mrd. EUR für den digitalen Binnenmarkt erzielt werden können.

Die Interinstitutionelle Vereinbarung über bessere Rechtsetzung deckt die jährliche und die mehrjährige Programmplanung und sämtliche Aspekte des Politikzyklus ab. Darüber hinaus sind darin die verschiedenen Verpflichtungen festgelegt, hochwertige EU-Rechtsvorschriften zu verfassen, die effizient, effektiv, einfach und klar sind und die keine Überregulierung und keinen unnötigen Verwaltungsaufwand für Einzelpersonen, die Behörden und Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, darstellen.

Jüngste, vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebene Forschungsarbeiten zeigen jedoch, dass die Einbeziehung unabhängiger Forschung: 1) in der Phase der Formulierung und Planung von EU-Strategien[3] verbessert werden muss, u. a. durch Verkürzung der Fristen für die Einführung von Gesetzesreformen, 2) gleichermaßen auf alle Gesetzesinitiativen angewandt werden muss (z. B. da durch Ausnahmen für dringende Dossiers die Qualität der EU-Gesetzgebung in wichtigen Bereichen gesenkt wird), und 3) gleichermaßen auf die Evaluierung der Auswirkungen des EU-Rechts angewandt werden muss, bei der es derzeit aufgrund mangelnder Datenerfassung[4] an entscheidenden Bewertungen der quantifizierten Auswirkungen fehlt.

Rolle des Europäischen Parlaments

Nach Artikel 14 Absatz 1 EUV wird das Europäische Parlament (über das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“) „gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig“ und übt (über ein besonderes Gesetzgebungsverfahren gemäß Artikel 314 AEUV) „gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus“. Darüber hinaus wirkt das Europäische Parlament auf die Vereinfachung des Gesetzgebungsverfahrens, die Verbesserung der redaktionellen Qualität der Rechtstexte und die Verhängung wirksamerer Sanktionen gegen Mitgliedstaaten hin, die sich nicht an das EU-Recht halten. Im jährlichen Arbeits- und Legislativprogramm der Kommission werden die wichtigsten politischen Prioritäten der Kommission dargelegt und konkrete Maßnahmen legislativer oder nicht legislativer Art aufgeführt, mit denen die politischen Prioritäten der Kommission praktisch umgesetzt werden sollen. Das Parlament leistet einen echten Beitrag zur Schaffung neuer Rechtsvorschriften, da es das jährliche Arbeitsprogramm der Kommission prüft und kundtut, welche Rechtsvorschriften seiner Auffassung nach eingeführt werden sollten.

Nachdem die EU Rechtspersönlichkeit erlangt hat, ist sie nun in der Lage, internationale Übereinkünfte zu schließen (Artikel 216 und 217 AEUV). Bei Übereinkünften im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik und in sämtlichen Bereichen, für die das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt, ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich (Artikel 218 Absatz 6 Buchstabe a AEUV). So erteilte das Parlament am 28. April 2021 seine Zustimmung zum Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Das Parlament hat bereits bei anderen Gelegenheiten gezeigt, dass es nicht davor zurückschreckt, sein Veto einzulegen, wenn es ernste Bedenken hat. So wurde zum Beispiel im Jahr 2012 das Übereinkommen zur Bekämpfung der Produkt- und Markenpiraterie (ACTA) vom Parlament abgelehnt.

Als Reaktion auf die Mitteilung der Kommission mit dem Titel „Bessere Rechtsetzung: Mit vereinten Kräften für bessere Rechtsvorschriften“ nahm das Parlament im Juli 2022 einen Initiativbericht an.

Untersuchungen, die von den Fachabteilungen des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben wurden, zeigen, dass Reformen notwendig sind, um für eine bessere Rechtsetzung und bessere Rechtsvorschriften in der EU[5] zu sorgen. Aus den Forschungsarbeiten geht ebenfalls hervor, dass eine Reform der Formulierung und Struktur der Gesetzgebung der EU von Vorteil sein könnte, um Unionsbürgern die digitale Nutzung von Rechtsvorschriften zu erleichtern[6]. In einer kürzlich veröffentlichten Studie zu Recht und IKT wird die schrittweise Digitalisierung des EU-Rechtssystems, einschließlich seiner grundlegenden Dokumente[7], empfohlen.

 

[2]Maciejewski, M., „Role of the European Parliament in promoting the use of independent expertise in the legislative process“ (Die Rolle des Europäischen Parlaments bei der Förderung von unabhängiger Expertise im Gesetzgebungsverfahren), veröffentlicht von der Fachabteilung Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, Europäisches Parlament, Dezember 2018.
[3]Jones, S., et al., „Better regulation in the EU: Improving quality and reducing delays“ (Bessere Rechtsetzung in der EU: Verbesserung der Qualität und Reduzierung von Verzögerungen), veröffentlicht von der Fachabteilung Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten, Europäisches Parlament, Juni 2022.
[4]Sartor, G., et al., „The way forward for better regulation in the EU – better focus, synergies, data and technology“ (Auf dem Weg zu einer besseren Rechtsetzung in der EU – besserer Fokus, Synergien, Daten und Technologie), veröffentlicht von der Fachabteilung Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten, Europäisches Parlament, August 2022.
[5]Jones, S., et al., „Better regulation in the EU“ (Bessere Rechtsetzung in der EU), veröffentlicht von der Fachabteilung Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten, Europäisches Parlament, Oktober 2023.
[6]Xanthaki, H., The ‘one in, one out’ principle. A real better lawmaking tool?“ (Der „One-in-one-out“-Grundsatz. Ein besseres Instrument für die Gesetzgebung?), veröffentlicht von der Fachabteilung Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten, Europäisches Parlament, Oktober 2023.
[7]Maciejewski, M., Law and ICT (Recht und IKT), veröffentlicht von der Fachabteilung Bürgerrechte und konstitutionelle Angelegenheiten, Europäisches Parlament, April 2024.

Udo Bux / Mariusz Maciejewski