Direkte Besteuerung: Personen- und Unternehmensbesteuerung

Der Bereich der direkten Besteuerung wird nicht unmittelbar durch Rechtsvorschriften der Europäischen Union geregelt. Im Rahmen mehrerer Richtlinien und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wurden allerdings harmonisierte Normen für die Besteuerung von Unternehmen und Privatpersonen festgelegt. Darüber hinaus sind Maßnahmen getroffen worden, um Steuerhinterziehung und Doppelbesteuerung zu vermeiden.

Rechtsgrundlage

Im EU-Vertrag sind keine ausdrücklichen Bestimmungen für Gesetzgebungsbefugnisse im Bereich der direkten Besteuerung vorgesehen. Als Grundlage für die Rechtsvorschriften zur Besteuerung von Unternehmen wird in der Regel Artikel 115 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) herangezogen, nach dem die Union befugt ist, Richtlinien zur Angleichung der Gesetze, Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen, die sich unmittelbar auf den Binnenmarkt auswirken. Hierzu sind Einstimmigkeit und die Anwendung des Anhörungsverfahrens erforderlich.

Nach Artikel 65 AEUV (freier Kapitalverkehr) haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, Steuerpflichtige, die sich hinsichtlich ihres Wohnsitzes oder des Kapitalanlageorts nicht in derselben Situation befinden, unterschiedlich zu behandeln. Im Jahr 1995 entschied jedoch der EuGH (Rechtssache C-279/93), dass im Bereich der Besteuerung und der sozialen Sicherheit Artikel 45 AEUV unmittelbar anwendbar ist: In diesem Artikel ist festgelegt, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung […] in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen“ umfasst. Gemäß den Artikeln 110 bis 113 AEUV sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Verhandlungen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung innerhalb der EU aufzunehmen. Nach Artikel 55 AEUV ist es untersagt, Staatsangehörige der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beteiligung am Kapital von Gesellschaften unterschiedlich zu behandeln. Die meisten Regelungen im Bereich der direkten Besteuerung fallen allerdings nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Besteuerung grenzüberschreitender Einkommensströme wird durch ein umfassendes Geflecht bilateraler Steuerabkommen, die sowohl für Mitgliedstaaten als auch für Drittländer gelten, geregelt.

Ziele

Zwei spezifische Ziele sind die Verhütung von Steuerhinterziehung und die Beseitigung der Doppelbesteuerung. Generell kann eine gewisse Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung gerechtfertigt sein, um Wettbewerbsverzerrungen (insbesondere bei Investitionsentscheidungen) zu verhindern, einen „Steuerwettbewerb“ zu vermeiden und den Spielraum für manipulierende Buchführung einzuengen.

Ergebnisse

A. Unternehmensbesteuerung – Maßnahmen zur Beseitigung steuerlicher Hindernisse im Binnenmarkt

Seit mehreren Jahrzehnten werden Vorschläge zur Harmonisierung der Körperschaftsteuer diskutiert (1962: Bericht Neumark; 1970: Bericht Van den Tempel; 1975: Vorschlag für eine Richtlinie zur Angleichung der Steuersätze zwischen 45 % und 55 %). Im Jahr 1980 teilte die Kommission mit, dass der Versuch der Harmonisierung aussichtslos sein dürfte (KOM(1980)0139), und konzentrierte sich auf Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts: In den „Leitlinien zur Unternehmensbesteuerung“ von 1990 (SEC(1990)0601) wurden drei Vorschläge angenommen, nämlich die Fusionsrichtlinie (90/434/EWG, jetzt Richtlinie 2009/133/EG), die Richtlinie über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (90/435/EWG, jetzt Richtlinie 2011/96/EU) und das Schiedsübereinkommen (90/436/EWG). Beispielhaft für das oftmals zähe Ringen bei den Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten kann die 1991 vorgeschlagene Richtlinie über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten stehen: Trotz einer Änderung und ungeachtet der positiven Stellungnahme des Parlaments zog die Kommission den Vorschlag wegen fehlender Einigung im Rat zurück. Als Teil des „Monti-Pakets“ wurde 1998 eine neue Fassung vorgelegt, die später als Richtlinie 2003/49/EG angenommen wurde.

1996 führte die Kommission einen neuen Ansatz für die Besteuerung ein. Im Bereich der Unternehmensbesteuerung war das wichtigste Ergebnis der Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung, den der Rat 1998 als Entschließung annahm. Zudem setzte der Rat eine Verhaltenskodex-Gruppe („Primarolo-Gruppe“) ein, die Fälle von unfairer Unternehmensbesteuerung prüfen sollte. Im Jahr 2001 arbeitete die Kommission eine analytische Studie zur Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Gemeinschaft (SEC(2001)1681) aus. In der zugehörigen Mitteilung der Kommission (KOM(2001)0582) wurde festgestellt, dass das Hauptproblem von Unternehmen darin bestand, dass sie sich im Binnenmarkt auf verschiedene nationale Regelwerke einstellen müssen. 2011 legte die Kommission einen Vorschlag für eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) vor. Das im Zusammenhang mit der GKKB vorgesehene System würde es Unternehmen ermöglichen, Anträge auf Steuerrückerstattung bei einer zentralen Anlaufstelle einzureichen. Ferner könnten sie darüber alle Gewinne und Verluste, die ihnen in der EU entstanden sind, verrechnen. Die Mitgliedstaaten wären weiterhin allein für die Festlegung ihrer Körperschaftsteuersätze zuständig. Im April 2012 legte das Europäische Parlament seinen Standpunkt zu diesem Vorschlag fest, im Rat wurde jedoch keine Einigung erzielt. Um die Verhandlungen im Rat neu anzustoßen, legte die Kommission im Juni 2015 eine Strategie zur Neuauflage des GKKB-Vorschlags im Jahr 2016 vor. Die Kommission entschied sich für ein zweistufiges Verfahren, in dessen Rahmen die gemeinsame Grundlage und die Elemente der Konsolidierung getrennt behandelt wurden, und zwar auf der Grundlage zweier zusammenhängender Legislativvorschläge: zu einer gemeinsamen Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKB) und zu einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB). Der neue Vorschlag soll eine verpflichtende GKKB enthalten, die aber schrittweise eingeführt würde. Mit diesem verbesserten, an die Arbeiten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) angepassten Vorschlag könnte auch der Steuervermeidung entgegengewirkt werden, indem damit Regulierungsspielräume zwischen den nationalen Systemen abgeschafft und so gängige Steuervermeidungspraktiken eingedämmt werden. Das Parlament nahm seine Stellungnahmen zu beiden Vorschlägen im März 2018 an, wohingegen die Verhandlungen im Rat erneut ergebnislos blieben.

Im September 2023 nahm die Kommission einen Vorschlag zur Schaffung eines Rahmens für die Unternehmensbesteuerung in Europa (BEFIT) an, durch den ein gemeinsames Regelwerk für die Körperschaftsteuer für die EU auf der Grundlage einer Aufteilung und einer gemeinsamen Steuerbemessungsgrundlage vorgesehen wird. Darin ist vorgesehen, dass die Befolgungskosten für Unternehmen, die in mehr als einem Mitgliedstaat tätig sind, gesenkt werden und es nationalen Steuerbehörden erleichtert wird, die fälligen Steuern festzustellen. Dieser Vorschlag ersetzt die anhängigen Vorschläge für eine GKB und eine GKKB. Nach der Annahme durch den Rat sollte der Vorschlag am 1. Juli 2028 in Kraft treten. Im September 2023 veröffentlichte die Kommission außerdem zwei weitere Vorschläge für Richtlinien des Rates: einen zu der Verrechnungspreisgestaltung und einen zu einem hauptsitzbasierten Steuersystem für kleine und mittlere Unternehmen. Im April 2024 nahm das Parlament seine Stellungnahmen zu beiden Vorschlägen an. Nach der Annahme durch den Rat sollten die beiden Vorschläge im Januar 2026 in Kraft treten.

B. Faire Besteuerung, Steuertransparenz und Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung und des schädlichen Steuerwettbewerbs

Im Zuge der Finanzkrise von 2008 wurde die Aufmerksamkeit auf die Bekämpfung der Steuervermeidung und die gerechte Besteuerung von Unternehmen gerichtet. Dazu soll u. a. mehr Transparenz erreicht werden, wie es auch aus dem Maßnahmenpaket zur steuerlichen Transparenz vom März 2015 hervorgeht, zu dem die Richtlinie des Rates bezüglich der Verpflichtung zum automatischen Austausch von Informationen im Bereich der Besteuerung (Richtlinie (EU) 2015/2376) und die Mitteilung über Steuertransparenz als Mittel gegen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung gehörten. Im Jahr 2015 verabschiedete die Kommission einen Aktionsplan für eine faire und effiziente Unternehmensbesteuerung in der Europäischen Union, nach dem eine Reform des Besteuerungsrahmens für Unternehmen vorgesehen war, um Steuermissbrauch zu bekämpfen, nachhaltige Einnahmen sicherzustellen und ein besseres Geschäftsumfeld im Binnenmarkt zu unterstützen. Im Januar 2016 schlug die Kommission ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Steuervermeidung vor, das u. a. einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates mit Vorschriften zur Bekämpfung von Steuervermeidungspraktiken mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts enthält. Diese auch als Richtlinie zur Bekämpfung von Steuervermeidung (ATAD-Richtlinie) bekannte Richtlinie wurde im Juli 2016 angenommen. Im Oktober 2016 wurde ein Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2016/1164 bezüglich hybrider Gestaltungen mit Drittländern (ATAD 2) vorgelegt, der im Mai 2017 angenommen wurde. Im Dezember 2021 legte die Kommissionen einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Festlegung von Vorschriften zur Verhinderung der missbräuchlichen Nutzung von Briefkastenfirmen für Steuerzwecke und zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU (ATAD 3 oder Unshell-Richtlinie) vor. Über letzteren Vorschlag wird im Rat weiterhin verhandelt, wobei das Parlament im Januar 2023 eine befürwortende Stellungnahme abgab.

In Bezug auf Transparenz schlug die Kommission ferner eine Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen (öffentliche länderbezogene Berichterstattung) vor. Der entsprechende Vorschlag wurde im November 2021 infolge einer Einigung zwischen dem Parlament und dem Rat angenommen. Multinationale Unternehmen werden demnach verpflichtet, bestimmte Teile der an die Steuerbehörde übermittelten Informationen offenzulegen.

Zwecks Verbesserung des Informationsaustauschs wurde 2011 die Richtlinie über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden (DAC) eingeführt, die in den vergangenen Jahren mehrfach geändert wurde, zuletzt im Oktober 2023 durch die DAC 8, um auch den Austausch von Informationen über Kryptowerte und E-Geld zu regulieren. Zuvor waren im März 2021 im Wege der DAC 7 Änderungen vorgenommen worden, mit denen sichergestellt werden sollte, dass die Mitgliedstaaten automatisch Informationen über die von Verkäufern auf digitalen Plattformen erzielten Einnahmen austauschen, unabhängig davon, ob sich diese Plattform in der EU befinden oder nicht. Davor waren die jüngsten Änderungen im Wege der im Mai 2018 angenommenen DAC 6 eingeführt worden, nachdem das Parlament in seiner Entschließung (TAXE 2) einen entsprechenden Legislativvorschlag gefordert hatte. In der DAC 6 ist festgelegt, dass Intermediäre wie Berater, Anwälte oder Steuerberater bestimmte Steuerregelungen an die lokalen Steuerbehörden melden müssen, die dann die in der gesamten EU gesammelten Informationen automatisch untereinander austauschen sollten.

Die EU setzt sich nicht nur für Transparenz ein, sondern auch dafür, dass die derzeitigen Steuervorschriften dem digitalen Zeitalter gerecht werden. Infolge des Wandels hin zu einer digitalen Wirtschaft erfolgt die Wertschöpfung in zunehmendem Maß nicht mehr an dem Ort, an dem Steuern gezahlt werden. Vor einem Jahrzehnt wurde im Rahmen der G20 mit Unterstützung der OECD damit begonnen, eine Modernisierung der internationalen Unternehmensbesteuerung zu erörtern.

Im März 2018 schlug die Europäische Kommission neue Vorschriften vor, die für eine gerechte Besteuerung digitaler Tätigkeiten in der EU sorgen sollen. Das betreffende Paket bestand aus zwei Legislativvorschlägen, die vom Parlament unterstützt wurden. Demnach sollten 1) die Körperschaftsteuervorschriften reformiert werden, damit Gewinne dort besteuert werden, wo Unternehmen eine signifikante digitale Präsenz haben, und 2) eine vorläufige Steuer auf Erträge aus digitalen Dienstleistungen (Digitalsteuer) entwickelt werden.

Nachdem parallel dazu die Gespräche auf Ebene der OECD fortgeführt worden waren, einigten sich die Mitglieder des inklusiven Rahmens gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) der OECD/G20 am 8. Oktober 2021 auf eine aus zwei Säulen bestehende Lösung, die ein Konzept zur Bewältigung der durch die Digitalisierung der Wirtschaft verursachten Herausforderungen im Steuerbereich vorsieht. Angesichts der auf globaler Ebene erzielten Fortschritte sind die Vorschläge der Kommission von 2018 derzeit ausgesetzt. Sollte in den Verhandlungen eine Einigung über eine globale Lösung erzielt und anschließend wirksam umgesetzt werden, so würden die Vorschläge hinfällig.

Mit dieser Zwei-Säulen-Lösung wird sichergestellt, dass die größten und profitabelsten multinationalen Unternehmen mit einem Mindestsatz von 15 % besteuert werden und dass die Gewinne den Ländern weltweit neu zugewiesen werden. Diese Lösung ist wie folgt ausgestaltet:

Mit der ersten Säule werden ein neuer steuerlicher Anknüpfungspunkt geschaffen und die Erträge von Unternehmen an dem Ort besteuert, an dem die Wertschöpfung erfolgt und an dem sich die Kunden befinden, und zwar unabhängig von der physischen Präsenz des jeweiligen Unternehmens im Land. Auf dieser Grundlage schlug die Kommission am 22. Dezember 2021 „EU-Eigenmittel der nächsten Generation“ vor, wobei u. a. Eigenmittel in Höhe von 15 % des Anteils an den Residualgewinnen der in den Geltungsbereich fallenden Unternehmen vorgesehen sind, die den EU-Mitgliedstaaten neu zugewiesen werden. Die Vorschläge sind nicht weiter konkretisiert, nicht zuletzt, da die OECD noch mit den Aspekten der praktischen Umsetzung der Ausgestaltung der Säule befasst ist. Kürzlich, d. h. im Oktober 2023, veröffentlichte die OECD jedoch das multilaterale Übereinkommen (MLC) zur Umsetzung des Betrags A unter der ersten Säule. Darin kommt der derzeitige Konsens zum Ausdruck, den die Mitglieder des inklusiven Rahmens gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung (BEPS) der OECD/G20 erzielt haben. Zuletzt veröffentlichte der inklusive Rahmen im Februar 2024 einen Bericht über den Betrag B unter der ersten Säule, um die Verrechnungspreisvorschriften und die Anpassungsänderungen am Kommentar zum OECD-Musterabkommen zu vereinfachen. Die erste Säule muss noch unterzeichnet werden und tritt erst in Kraft, wenn mindestens 30 Länder, die eine kritische Masse von in den Geltungsbereich fallenden multinationalen Unternehmen ausmachen, das multilaterale Übereinkommen ratifizieren.

Mit der zweiten Säule wird eine effektive globale Mindeststeuer von 15 % eingeführt, zu der die Kommission am 22. Dezember 2021 einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Gewährleistung einer globalen Mindestbesteuerung für multinationale Unternehmensgruppen veröffentlicht hat.

Nachdem die EU ihre Richtlinie zur zweiten Säule Ende 2022 angenommen hatte, mussten die Mitgliedstaaten die Vorschriften bis zum 31. Dezember 2023 umsetzen (wobei sich einige Mitgliedstaaten jedoch dafür entschieden, die in der genannten Richtlinie vorgesehene Ausnahmeregelung anzuwenden, welche eine spätere Umsetzung ermöglicht). Die Annahme der Richtlinie bedeutet, dass Mindeststeuervorschriften Teil des EU-Rechts geworden sind.

Überdies aktualisiert der Rat regelmäßig die EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke.

C. Personenbesteuerung

1. Einkommensteuer

Die Besteuerung der Arbeitnehmer oder Rentenempfänger in einem Mitgliedstaat, die allerdings in einem anderen Mitgliedstaat leben oder dort unterhaltsberechtigte Familienangehörige haben, ist seit jeher ein strittiges Thema. Mit bilateralen Abkommen konnte zwar generell eine Doppelbesteuerung vermieden werden, allerdings konnten auf diese Weise Fragen wie die Anwendung unterschiedlicher Formen von Steuererleichterungen im Wohnsitzland auf Arbeitseinkünfte im Beschäftigungsland nicht gelöst werden. Um eine Gleichbehandlung von Gebietsansässigen und Gebietsfremden sicherzustellen, legte die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Harmonisierung von Regelungen im Bereich der Einkommensteuer im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft (KOM(1979)0737) vor, der zufolge die Besteuerung im Wohnsitzland gegolten hätte. Nach Ablehnung durch den Rat wurde der Vorschlag zurückgezogen, und die Kommission legte lediglich eine Empfehlung zu den bei der Besteuerung der Einkünfte Gebietsfremder anzuwendenden Grundsätzen vor. Ferner wurden gegen Mitgliedstaaten Verfahren wegen Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer eingeleitet. 1993 entschied der EuGH (Rechtssache C-112/91), dass ein Mitgliedstaat Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats bei der Erhebung der direkten Steuern nicht schlechter behandeln darf als eigene Staatsangehörige (siehe Rechtssache C-279/93). So lässt sich behaupten, dass die Integration im Bereich der direkten Personenbesteuerung eher durch Urteile des EuGH als durch Legislativvorschläge weiterentwickelt wurde. Im Oktober 2017 nahm der Rat eine Richtlinie (Richtlinie (EU) 2017/1852) an, mit der die bestehenden Verfahren zur Beilegung von Doppelbesteuerungsstreitigkeiten in der EU verbessert werden sollen.

2. Besteuerung der grenzüberschreitend gezahlten Bank- und sonstigen Zinsen

Grundsätzlich muss der Steuerpflichtige Zinsen bei seiner Steuererklärung angeben. In der Praxis bestanden durch den freien Kapitalverkehr sowie durch das Bankgeheimnis Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung. Einige Mitgliedstaaten erheben eine Quellensteuer auf Zinserträge. Im Jahr 1989 schlug die Kommission die Einführung eines gemeinsamen Systems einer Quellensteuer auf Zinserträge mit einem Steuersatz von 15 % vor. Dieser Vorschlag wurde im Anschluss zurückgezogen und durch einen neuen Vorschlag zur Sicherstellung eines Mindestmaßes an tatsächlicher Besteuerung von Zinserträgen (Steuersatz von 20 %) ersetzt. Nach langen Verhandlungen wurde ein Kompromiss erzielt, und die Richtlinie 2003/48/EG des Rates zur Besteuerung von Zinserträgen wurde verabschiedet. Inzwischen wurde sie durch die weitergehende Richtlinie 2014/107/EU ersetzt, nach der in Verbindung mit der Richtlinie 2011/16/EU ein umfassender Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden vorgesehen ist. Im Juni 2023 legte die Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über schnellere und sicherere Verfahren für die Entlastung von überschüssigen Quellensteuern (FASTER) vor, mit dem die Verfahren der Quellensteuerentlastung in der EU für grenzüberschreitend tätige Anleger und nationale Verwaltungen effizienter gestaltet werden sollen.

Rolle des Europäischen Parlaments

Bei Vorschlägen zur Besteuerung beschränkt sich die Rolle des Parlaments im Allgemeinen auf das Anhörungsverfahren. Darüber hinaus besteht die Aufgabe des Parlaments jedoch auch darin, die Kommission aufzufordern, neue Legislativvorschläge für eine gerechtere, umweltfreundlichere und wirksamere Besteuerung vorzulegen. Somit fungiert das Parlament auch als Gestaltungsorgan für die EU-Steuerpolitik und bietet eine Plattform für Diskussionen über die internationale Besteuerung.

So stellte insbesondere die Einsetzung des Unterausschusses für Steuerfragen (FISC) im September 2020 einen wichtigen Schritt in Richtung einer weiteren Stärkung der Rolle des Parlaments in internationalen Steuerdebatten dar. Der FISC wurde eingerichtet, um die Bekämpfung von Steuervermeidung voranzubringen, die Transparenz im Hinblick auf finanzielle Aspekte zu erhöhen und das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. Der FISC steht in regelmäßigem Kontakt mit nationalen Parlamenten, der Wissenschaft, Steuerverwaltungen und der Zivilgesellschaft, und zwar im Rahmen von öffentlichen Anhörungen, Aussprachen, Reisen in Mitgliedstaaten und Drittländer sowie des EU-Steuersymposiums.

Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie auf der Website des Unterausschusses für Steuerfragen (FISC).

 

Jost Angerer