Europaabgeordnete Kalniete: Wir müssen unsere Demokratien vor feindlichen Ländern schützen
Im Vorfeld der Europawahlen im nächsten Jahr muss die EU ihre Wahlinstrumente gegen bösartige Interessen stärken, so Sandra Kalniete.
Sandra Kalniete (EVP, Lettland) verfasste den Bericht des Sonderausschusses des Parlaments zu Einflussnahme aus dem Ausland auf alle demokratischen Prozesse in der Europäischen Union, einschließlich Desinformation. Sehen Sie das vollständige Interview über Desinformation, Manipulation und Einflussnahme aus dem Aufland auf dem Youtube-Kanal des Parlaments und lesen Sie hier Auszüge.
Sie leiten die Arbeit des Parlaments zu Desinformation und Einflussnahme aus dem Ausland auf die demokratischen Prozesse in der EU und haben viele unabhängige Journalisten, ausländische Gesetzgeber und UN-Vertreter getroffen. Gibt es ein Muster oder eine besondere Herausforderung in Europa, wenn es um Desinformation geht?
Wir haben 150 Experten, Abgeordnete und Journalisten getroffen. Wir haben viel von ihnen gelernt, aber die allgemeine Beobachtung ist nicht sehr optimistisch, denn die Geschwindigkeit, mit der sich die digitale Realität entwickelt, bedeutet, dass der Gesetzgebungsprozess hinterherhinkt. Wie einer der Experten sagte, sind die Rechtsvorschriften, die Situation und das, was wir heute debattieren, bereits von gestern.
Sie haben die EU aufgefordert, eine gemeinsame Definition von Desinformation auszuarbeiten, wie sie einige Länder für Hassverbrechen oder Rassismus haben. Warum ist das wichtig?
Man muss eine gemeinsame Sprache haben. Wenn man ein Wort wie Desinformation verwendet, muss man wissen, was das Wort bedeutet. Aber es ist extrem schwierig, eine gemeinsame Definition zu finden. Die Diskussionen mit der UNO haben gezeigt, wie schwierig es für Länder ist, die nicht der Europäischen Union angehören. Für uns ist es recht einfach. Wir haben eine Reihe von Werten, aber diese Werte sind nicht die Werte für die gesamten Vereinten Nationen. Es gibt Länder, in denen die Demokratie, nennen wir es mal „Kontrolldemokratie“, eine Art Manipulation von Wahlen ist. Dann gibt es Autokratien und Diktaturen. Für sie ist Desinformation ein ideologisches Mittel, um die Kontrolle zu sichern. Deshalb muss die Europäische Union eine Vorreiterrolle übernehmen und sich zumindest auf den Begriff der Desinformation einigen, der dann auch von anderen Institutionen übernommen werden kann.
Bis zu den Europawahlen ist es noch ein Jahr hin. In Ihrem Bericht schreiben Sie, dass Russland massiv in die Finanzierung politischer Parteien in demokratischen Ländern investiert. Welche Auswirkungen wird dies haben?
Sie sprechen eines der Themen an, die für unsere Demokratie absolut lebenswichtig sind, denn die Demokratie ist ein offenes System. Sobald ein feindliches Drittland mit eigenen Interessen auftaucht, das Nichtregierungsorganisationen oder stellvertretende Stiftungen finanziert, die zur Stärkung ihrer Interessen und zur Spaltung unserer Gesellschaften eingesetzt werden, müssen wir uns schützen.
Was die Wahlen anbelangt, so bin ich der Meinung, dass eine der wichtigsten Aufgaben darin besteht, die Wahlinstrumente zu stärken: das Wahlsystem, die Auszählung der Stimmen und so weiter. Zweitens ist es wichtig, die Unabhängigkeit der Medien zu schützen und den investigativen Journalismus zu unterstützen, denn investigative Journalisten können das schmutzige Geld verfolgen und herausfinden, wie es auf sehr verdeckte Weise in die Union einsickert und den normalen demokratischen Prozess erschwert.
Medienkompetenz, Faktenüberprüfung, Widerstandskraft gegen Manipulation und Fake News. All das ist ebenfalls wichtig.
Medienberichten zufolge hat Russland das Budget für Propaganda zum Ukraine-Krieg verdreifacht, und ein Teil dieses Geldes und der Propaganda soll auch in anderen Ländern verbreitet werden. Wie kann Europa diesen Kommunikationskrieg bekämpfen?
Wir haben die Sender Sputnik und Russia Today geschlossen. Sie wurden in vielen Ländern und in vielen Sprachen ausgestrahlt. Das war ein sehr deutliches Signal an Russland, dass wir diese Art von Desinformationsinstrumenten in der Europäischen Union nicht akzeptieren werden.
Das Problem ist, dass Russia Today, Sputnik und andere Medien sofort auf die Bereiche ausgewichen sind, in denen wir keine Macht haben: soziale Netzwerke – Telegram und TikTok und Facebook … Was auch immer! Das ist eines der Probleme. Es geht aber nicht nur darum, gegenzusteuern, wir müssen auch proaktive Inhalte schaffen, die für die Verbraucher attraktiv und interessant sind … Und das ist etwas, an dem wir arbeiten.