AboNacherzählung zum Sturm aufs CapitolVerschwörung gegen Amerika
Der Ausschuss präsentierte beim vorläufig letzten Hearing weitere Indizien dafür, dass Donald Trump die Gewalt am 6. Januar 2021 bewusst geschürt hatte. Eine Rekonstruktion der Ereignisse jenes Tages mit Hilfe von Zeugenaussagen.
Der Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika beginnt am 6. Januar 2021 um 12.54 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt durchbrechen Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump die erste Absperrung am Capitol in Washington. Sie wollen verhindern, dass der Senat und das Repräsentantenhaus den Sieg des Demokraten Joe Biden förmlich bestätigen. Sie schwenken Flaggen, nicht nur die US-amerikanische, auch Wahlkampfslogans für Trump und Revolutionssymbole wie die Gadsden Flag sind darunter. Ein Teil der Angreifer besteht aus Anhängern der «Proud Boys» und der «Oath Keepers», rechtsradikaler Milizen, die ihre Mitglieder nach Washington beordert hatten, nachdem Trump schon Wochen vorher getwittert hatte: «Big protest in D.C. on January 6th. Be there, will be wild!»
Der Mob wird das Capitol 187 Minuten, mehr als drei Stunden lang, besetzen. Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, und Vizepräsident Mike Pence entkommen nur knapp. Am Ende des Tages sind fünf Menschen tot, und die Vereinigten Staaten fragen sich, wie knapp sie gerade einem gewaltsamen Umsturz entgangen sind. Wollte Trump wirklich im letzten Moment das Wahlergebnis mit Gewalt kippen, um weiter an der Macht zu bleiben?
Das ist die zentrale Frage bei den Anhörungen zum 6. Januar 2021 in Washington, die in dieser Woche zu Ende gingen. In neun durchorchestrierten Befragungen, die erste und die letzte zur besten TV-Sendezeit, versuchte ein Ausschuss des Repräsentantenhauses, minutiös nachzuzeichnen und zu belegen, dass Donald Trump auf den Sturm des Capitol und damit wahrscheinlich auf einen Putsch hingearbeitet hatte. Die meisten Republikaner boykottierten die Aufarbeitung, und zunächst schien ihre Strategie aufzugehen: Sämtliche enge Mitarbeiter Trumps entzogen sich einer Zeugenaussage.
Tiefe Einblicke in das Umfeld des Präsidenten
Das änderte sich am 28. Juni mit dem Auftritt der 25-jährigen Cassidy Hutchinson. Mit ihren detailreichen Schilderungen gewährte sie tiefe Einblicke in das Umfeld des Präsidenten: Männer mit Verbindungen zu rechtsradikalen Milizen, die im Weissen Haus ein und aus gingen. Ein US-Präsident, der anscheinend zu allem bereit war; der auch vor körperlichen Auseinandersetzungen mit seinen eigenen Secret-Service-Agenten nicht zurückschreckte; der impulsiv und jähzornig ist. Und Aussagen von engen Mitarbeitern des Präsidenten, die darauf hinweisen, dass am 6. Januar möglicherweise mehr geplant war als ein friedlicher Protest von Trump-Anhängern, der dann ausser Kontrolle geriet.
Wenn Trump einen Putsch geplant hatte: Wer half ihm dabei? Die Auftritte der Zeugen in den vergangenen Wochen zeichnen ein neues Bild der Ereignisse. Vieles, was bisher bekannt war, muss im Licht ihrer Aussagen neu bewertet werden. Wir haben zentrale Passagen der Anhörungen in den Kontext des 6. Januar 2021 und der Wochen davor eingeordnet und illustriert, da es oft keine Bilder der beschriebenen Ereignisse gibt. Obwohl die Aussagen unter Eid gemacht wurden, ist die Darstellung einiger Szenen umstritten. Sie alle fügen sich aber zu dem Bild einer Nation am Abgrund zusammen. Es sind diese Szenen, anhand derer die USA in den kommenden Wochen darüber streiten werden, ob Ex-Präsident Donald Trump den Plan hatte, gewaltsam an der Macht zu bleiben. Und welche Konsequenzen daraus gezogen werden müssen.
Die Warnung
9.45 Uhr: Vor einer Dreiviertelstunde begann offiziell die Rally «March for Trump». Ein Sicherheitsbeamter informiert die Hauptstadtpolizei: Auf dem The Ellipse genannten ovalen Platz am Weissen Haus, wo Trump mittags seine Rede halten soll, würden schon jetzt mehr als die 30’000 maximal genehmigten Zuhörer erwartet. Angemeldet waren sogar nur 5000 Teilnehmer. Schon lange vor Trumps Auftritt ziehen die ersten seiner Anhänger johlend und Flaggen schwenkend durch die Strassen der amerikanischen Hauptstadt. Viele sind aus dem ganzen Land angereist; vordergründig, um Trump zu sehen und zu hören, der seit Monaten behauptet, die Wahl sei ihm «gestohlen worden».
Aber in den sozialen Netzwerken, in den Reden von Verschwörungsideologen wie Alex Jones von der Website Infowars und aus den Parolen, die Trumps Anhänger an diesem Tag in Washington grölen, wird klar: Viele wollen nicht nur demonstrieren. Sie träumen davon, das Wahlergebnis doch noch zu wenden, ja, sie wähnen sich sogar im Recht und in der Pflicht, das zu tun. Sie glauben fest daran, bei der Wahl betrogen worden zu sein und nun ihrem Kandidaten notfalls mit Gewalt, mindestens aber mit einem lautstarken Protest zu seinem vermeintlichen Recht verhelfen zu müssen. Schon Wochen vorher kursieren in sozialen Netzwerken Aufrufe zum Marsch auf das Capitol. Die Erstürmung des Parlaments schwingt zumindest schon mit, sogar Pläne des Gebäudeinneren werden geteilt.
12 Uhr: Trump beginnt die Rede am Weissen Haus mit seinen Lieblingsthemen: Er schimpft auf die Techbranche und die Medien, die er für die grössten Probleme in Amerika hält. Er wiederholt seinen Vorwurf, die Wahl sei nicht fair abgelaufen, er habe sie klar gewonnen.
12.16 Uhr: Trump fordert in seiner Rede die geschätzten 80’000 Zuhörer mehrmals auf, zum Capitol zu marschieren. «Wir werden rüber zum Capitol gehen, und wir werden unsere tapferen Senatoren und Abgeordneten anfeuern», sagt Trump. «Wahrscheinlich werden wir manche auch nicht so sehr anfeuern», fügt er in der typischen Doppeldeutigkeit seiner Ansagen hinzu. Einige Mitglieder der «Proud Boys» sind da längst unterwegs. Noch bevor Trumps Rede zu Ende ist, werden seine Anhänger den ersten Angriff auf die Absperrung vor dem Capitol starten.
Treffen mit Vertretern von rechtsextremen Milizen
Eine zentrale Frage der Anhörungen ist nun, ob und wie Trump die Menge aufgestachelt hat, zum Capitol zu ziehen und dort für ihn «zu kämpfen», «fight like hell», wie er es ausdrückte. Wollte Trump nur etwas Unruhe stiften, sich selbst im Gespräch halten, doch noch irgendwie ein legales Schlupfloch finden, um die Wahl zu seinen Gunsten zu entscheiden? Oder hatte er längst auf Gewalt gesetzt – Gewalt, die im besten Falle nicht auf ihn zurückzuführen wäre: einen Angriff, in die Tat umgesetzt von rechtsextremen Milizen, die ihm zu Füssen liegen, zu denen er aber kaum eine direkte Beziehung zu haben schien. Treffen mit Vertretern der Milizen sollen aber durchaus stattgefunden haben.
Und im Weissen Haus war man sich der Gefahr bewusst, dass Trump deshalb im Fall von Ausschreitungen mit diesen in Verbindung gebracht werden könnte, wie Cassidy Hutchinson, damals Assistentin von Donald Trumps Stabschef, bei den Anhörungen aussagte. Der Verdacht besteht, dass Trump über Vertrauensleute mit den Milizen verkehrte, um jede direkte Verbindung später leugnen zu können.
Über Trumps anstehende Brandrede habe es am Morgen des 6. Januar viele Diskussionen gegeben, sagte Hutchinson. Ihr zufolge hat Rechtsberater Eric Herschmann dem Präsidenten davon abgeraten, Phrasen und Aussagen zu benutzen wie: «Kämpft für Trump», «Marschiert zum Capitol», «Ich werde mit euch dort sein», «Kämpft für mich», «Kämpft für die Bewegung». Laut Hutchinson wurde Trump auch davor gewarnt, Kommentare zu Vizepräsident Mike Pence abzugeben. Die Juristen des Weissen Hauses hätten rechtliche Konsequenzen befürchtet und Angst gehabt, die martialische Wortwahl könnte einen ungünstigen Eindruck von Donald Trumps Absichten erwecken. Der liess sich von den Ratschlägen nicht abhalten und benutzte in seiner Rede trotzdem viele dieser Kampfbegriffe.
Hutchinsons Aussage ist bemerkenswert, weil sie einen wichtigen Einblick hinter die Kulissen des Weissen Hauses unter Trump gibt: Man war sich dort allem Anschein nach am 6. Januar 2021 sehr wohl bewusst, welche Wirkung die wochenlangen Aufstachelungen Trumps hatten, und sah die Gefahr: nicht nur die der Eskalation, sondern auch, dass der ganze Marsch aufs Capitol auf Trump selbst zurückfallen könnte. Es ist danach nur noch schwer vorstellbar, Trump habe keine Kenntnis von Ziel, Anzahl und Gewaltbereitschaft der Demonstranten gehabt.
Trump und die Waffen
13.05 Uhr: Der Kongress tritt im Capitol zusammen, um den Wahlsieg Joe Bidens zu bestätigen. Die Abgeordneten wissen nicht, dass draussen bereits die ersten Absperrungen von den Anhängern Trumps durchbrochen wurden.
13.10 Uhr: Trump beendet seine Rede mit den Worten: «We fight like hell and if we don’t fight like hell, we don’t have a country anymore.» Das sind im amerikanischen Englisch zweideutige Parolen, wie sie Donald Trump bei vielen seiner Rallys benutzt hat. Diesmal aber kommen sie vielen seiner Fans sehr eindeutig vor: Am Capitol schlagen zu diesem Zeitpunkt bereits Demonstranten mit Eisenstangen, Feuerlöschern und mitgebrachten Werkzeugen wie Hämmern hemmungslos auf die Polizisten an den Absperrungen ein. Die Polizei zieht sich auf die Stufen des Capitol zurück und versucht, mit Tränengas die Menge aufzulösen, hat damit aber keinen Erfolg. Mehr als hundert Menschen werden bei den Kämpfen verletzt, viele von ihnen schwer. Trotzdem geht die Schlacht, wie man diese Stunden vor dem Capitol nennen muss, in Anbetracht der Voraussetzungen vergleichsweise glimpflich aus. Ein Polizist erzählt später, einer der Demonstranten habe eine Pistole verloren. Er habe sie aufgehoben, schnell eingesteckt und den ganzen Tag mit sich herumgetragen, damit keine Menschen durch diese Waffe zu Schaden kommen konnten.
Es ist bekannt, dass viele der Angreifer, in der überwiegenden Mehrheit weisse Männer, Schusswaffen bei sich trugen, viele hatten auch Schutzausrüstung und Helme dabei, als würden sie in einen Krieg ziehen. Ein Teil verfügte über eine militärische Ausbildung und keine Hemmungen, dieses Wissen gegen das Land einzusetzen, das man einmal zu verteidigen geschworen hatte. Auch die Polizisten auf der anderen Seite der Barrikade trugen Schusswaffen bei sich. Rückblickend ist es kaum zu glauben, dass in diesen Stunden vor dem Capitol niemand zu schiessen beginnt. Haben die Demonstranten Respekt vor der zahlenmässig unterlegenen, aber besser ausgerüsteten Polizei? Die Sicherheitskräfte selbst ziehen ihre Waffen vor dem Capitol in voller Absicht nicht: um zu deeskalieren und den Angreifern keinen Grund zum Schiessen zu geben. Erst im Capitol selbst ziehen mehrere Polizisten und Sicherheitskräfte ihre Waffen. Eine einzige Angreiferin, die Ex-Soldatin Ashli Babbitt, wird von Sicherheitskräften angeschossen, als sie versucht, durch das zerbrochene Fenster einer verbarrikadierten Tür zu klettern. Sie stirbt später im Krankenhaus.
«I don’t fucking care if they have weapons.»
Auch zu den Waffen machte Hutchinson im Untersuchungsausschuss eine Aussage. Obwohl sie nicht zum Einsatz kamen, stand die Frage im Raum, warum man für einen friedlichen Protestmarsch Schusswaffen und Kampfausrüstung braucht. Manche hatten sogar AR-15s dabei, die berüchtigten Sturmgewehre, die zuletzt bei fast allen Amokläufen in Amerika benutzt wurden.
Klar, in Amerika gibt es genug Menschen, die ihre Waffen gerne überallhin mitnehmen. Aber selbst den fanatischsten Trump-Anhängern musste klar sein, dass es etwas anderes ist, auf dem Land in Texas seine Waffe dabeizuhaben, als damit in Washington D.C. vor dem Capitol aufzumarschieren. Die Hauptstadt reguliert Waffen streng, auf dem Gelände zwischen Capitol und Weissem Haus ist es streng verboten, sie zu tragen. Wozu also die Waffen, wenn nicht für eine Machtdemonstration – und einen gewaltsamen Umsturz?
Donald Trump jedenfalls schien die Bewaffnung seiner Anhänger nicht im Geringsten zu stören. «I don’t fucking care if they have weapons», sagte er laut Hutchinson hinter der Bühne. Dort habe sich Trump über zu wenige Zuhörer beschwert. Die Ellipse müsse voll aussehen, habe er verlangt. Viele seiner Anhänger liess der Secret Service aber nicht durch die Absperrungen, weil sie bewaffnet waren. Trump argumentierte laut Hutchinson, die Leute seien nicht dort, um ihn zu verletzen, der Secret Service solle die Kontrollen abbauen und sie hereinlassen. Wenn stimmt, was Hutchinson unter Eid sagte, wusste Trump also nicht nur, dass seine Anhänger teilweise schwer bewaffnet waren, er versuchte sogar zu verhindern, dass sie kontrolliert und ihnen die Waffen abgenommen wurden. Er betonte Hutchinson zufolge obendrein, dass diese Bewaffneten zum Capitol weiterziehen sollten. Was sie dann auch taten.
Die Fahrt zum Capitol
13.17 Uhr: Trumps Konvoi verlässt nach seiner Rede die Ellipse. Der Präsident glaubt, er werde nun zu den Demonstranten am Capitol gebracht. So war es den Fahrtenbüchern zufolge wohl auch einmal geplant. Seine Secret-Service-Beamten teilen ihm aber mit, das sei zu gefährlich, man werde ihn zurück ins Weisse Haus bringen. Trump verlangt daraufhin laut übereinstimmenden Zeugenaussagen vehement, zum Capitol gefahren zu werden.
Auch diese Szene berichtete Cassidy Hutchinson vor dem Untersuchungsausschuss. Sie erzählte dabei pikante Details, die von anderen Quellen bestritten werden. Trump soll geflucht haben: «Ich bin der verdammte Präsident, bringt mich zum Capitol!»
Als der Chef seines Sicherheitsteams, Bobby Engel, darauf besteht, zurück ins Weisse Haus zu fahren, soll Trump sich nach vorne gebeugt und dem Fahrer ins Lenkrad gegriffen haben, gefolgt von einem kurzen Gerangel mit Engel. Hutchinson sass nicht in diesem Wagen, fuhr aber mit derselben Kolonne zurück ins Weisse Haus. Dort angekommen, habe sie der stellvertretende Stabschef Tony Ornato in sein Büro gerufen: «Hast du mitbekommen, was verdammt noch mal im ‹Beast› passiert ist?», habe er gefragt und ihr den ganzen Vorfall erzählt. Engel habe danebengestanden und nicht widersprochen, sagte Hutchinson. Ob sich der Vorfall wirklich genau so ereignete, ist umstritten, besonders der Griff ins Lenkrad und das Gerangel mit Engel.
Zumindest in einem Punkt weicht Hutchinsons Schilderung von Fernsehbildern jenes Tages ab: Trump wurde nicht in der Präsidentenlimousine namens «Beast» herumgefahren, sondern in einem SUV. Den Kern von Hutchinsons Aussage stützten amerikanische Medien hingegen: Sie berichteten, im Secret Service kursierten Anekdoten mehrerer Wutausbrüche Trumps. Bisher hat auch keiner der Beamten Hutchinsons unter Eid gemachter Darstellung öffentlich widersprochen. Und selbst wenn die Szene beim Nacherzählen möglicherweise etwas ausgeschmückt wurde, belegt sie doch zwei Dinge: Trump wollte unbedingt an den Protesten am Capitol teilnehmen – und er schien zu allem bereit zu sein, möglicherweise auch zu Gewalt.
Ketchup an der Wand
13.19 Uhr: Trumps Konvoi kommt am Weissen Haus an. Am Capitol ordnen die Sicherheitskräfte wenige Minuten später eine Evakuierung von Teilen des Komplexes an. Die Polizisten im Capitol, der Bürgermeister von Washington und andere offizielle Stellen bitten um Verstärkung. Beamte der Polizei von Washington kommen bald zu Hilfe, bis die Nationalgarde eintrifft, wird es aber noch Stunden dauern. Trump unternimmt die ganze Zeit über nichts, um den Mob, den er aufgestachelt hat, wieder zurückzurufen.
Dabei ist Trump bei seinen Mitarbeitern nicht für sein ruhiges Gemüt bekannt, wie Cassidy Hutchinson bei den Anhörungen berichtete. Eine eindrückliche Szene soll sich Anfang Dezember 2020 ereignet haben. Als der damalige Justizminister William Barr in einem Fernsehinterview sagte, es gebe keine Beweise für Wahlbetrug, soll Trump aus Wut sein Mittagessen durch das Esszimmer des Weissen Hauses gefeuert haben. Hutchinson berichtete, wie sie einen Knall hörte, und als sie das Zimmer betrat, war einer der Hausangestellten gerade dabei, das Tischtuch zu wechseln. Er winkte sie herein und zeigte ihr den zerbrochenen Teller und die Wand, von der noch der Ketchup auf den Boden tropfte. Laut eigener Aussage half Hutchinson beim Putzen, der Angestellte habe dabei sinngemäss zu ihr gesagt: «Ich würde mich von ihm fernhalten.»
Laut Hutchinson war das nicht der einzige Vorfall dieser Art. Das Bild einer jungen Frau, die nach einem Wutanfall des US-Präsidenten Ketchup von den Wänden des Weissen Hauses wischt, wird wahrscheinlich lange im kollektiven Gedächtnis der Vereinigten Staaten hängen bleiben.
Die Milizen
14.12 Uhr: Durch eingeschlagene Scheiben dringen die ersten Trump-Anhänger ins Capitol ein und öffnen dann für andere die Türen. Bei dem Angriff vorne mit dabei sind die Mitglieder der rechtsextremen «Proud Boys». Trump kennt die neofaschistische Männermiliz. Von Joe Biden während eines TV-Duells vor der Wahl aufgefordert, sich von rassistischen Ideologien und rechtsradikalen Milizen zu distanzieren, sagte er: «Proud Boys, stand back and stand by», was von vielen erst recht als eine Art Marschbefehl verstanden wurde.
14.13 Uhr: Trumps Vizepräsident Mike Pence und Nancy Pelosi, Demokratin und Sprecherin des Repräsentantenhauses, werden zusammen mit anderen Abgeordneten vom Secret Service in Sicherheit gebracht, kurz bevor der Mob in ihre Nähe vordringt. Immer wieder skandieren die Angreifer, sie wollten Pence hängen, weil dieser sich weigere, Trump zur Präsidentschaft zu verhelfen. Pelosis Büro wird von Angreifern verwüstet und geplündert, während ihre Mitarbeiter sich auf der anderen Seite des Flurs in Todesangst unter einem Tisch versteckt halten. Bei der bisher letzten Anhörung an diesem Donnerstag berichtete ein anonymer Mitarbeiter des Secret Service, auch die Beamten in Mike Pence’ Sicherheitsteam hätten zu diesem Zeitpunkt Angst um ihr eigenes Leben gehabt und über Funk darüber gesprochen, sich von ihren Familien zu verabschieden, weil es gleich «sehr hässlich» werden würde.
Die Namen «Proud Boys» und «Oath Keepers», eine andere Miliz, die am 6. Januar in Washington mit aufmarschierte, seien seit Anfang Januar immer wieder im Weissen Haus gefallen, vor allem wenn Rudy Giuliani, der ehemalige New Yorker Bürgermeister und Ex-Anwalt von Trump, anwesend gewesen sei, sagte Hutchinson im Untersuchungsausschuss. Auch Roger Stone, ein Freund Trumps, pflegt enge Verbindungen zu den «Proud Boys», die er öfter als Security bei seinen Auftritten einsetzte.
Wie konnte Trump bei diesen Aufrufen zum Mord an seinem Stellvertreter Pence nicht einschreiten? Trump sei über die Lynchaufrufe sogar erfreut gewesen, sagte Stabschef Mark Meadows seiner Assistentin Hutchinson zufolge. «Er findet, Mike verdiene das; er findet, die machten nichts Falsches», sagte Meadows demnach über Trump. Dafür spricht auch ein Tweet, den Trump um 14.24 Uhr absetzte. Da wusste er aus dem Fernsehen bereits von den Eindringlingen im Capitol, mehrere Berater hatten ihn laut Hutchinson bereits angefleht, seine Fans zurückzurufen. Trump jedoch befeuerte stattdessen ihre Wut, indem er behauptete, Mike Pence habe nicht den Mut besessen, das Richtige zu tun.
Trump stützte sich bei seinen Angriffen auf Mike Pence auf die Argumente von politischen Randfiguren, mit denen er, an allen Gepflogenheiten seines Amtes vorbei, Kontakt unterhielt. Alarmiert reagierten die Juristen des Weissen Hauses etwa, als Trump sich am Abend des 18. Dezember 2020 ohne jedwede Mitarbeiter im Oval Office mit externen Beratern wie der Verschwörungsideologin Sidney Powell und dem ehemaligen Sicherheitsberater Michael Flynn traf, ohne dass dieses Treffen auf der offiziellen Tagesordnung gestanden habe. So schilderten es die Anwälte Erich Herschmann und Pat Cipollone später bei den Anhörungen. Trump sei kurz davor von seinen Rechtsberatern darüber ins Bild gesetzt worden, er habe all seine rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft und keine Chance mehr, die Wahl weiterhin juristisch anzufechten. Er wollte das aber nicht einsehen.
Bei dem laut Zeugen verrücktesten Termin seiner Präsidentschaft habe er mit Powell und Flynn einen Plan besprochen, Soldaten in die Staaten auszusenden, um deren Wahlmaschinen zu konfiszieren. Die Anwälte des Weissen Hauses störten Trumps Geheimsitzung jedoch, worauf die Gäste sehr laut geworden seien. Das Treffen soll beinahe in Handgreiflichkeiten ausgeartet und ohne klare Entscheidungen zu Ende gegangen sein.
War es dieser Abend, an dem Trump beschloss, das Ergebnis notfalls mit Gewalt anzufechten? Erst nach Mitternacht komplimentierten die Mitarbeiter des Weissen Hauses die letzten Gäste vor die Tür. Am Morgen danach lud Trump seine Anhänger per Tweet ein, am 6. Januar nach Washington zu kommen, wo es «wild werde».
Schluss - «Thank you»
14.38 Uhr: Auf den Stufen vor dem Capitol liefern sich Polizei und Demonstranten einen brutalen Kampf, grosse Teile des Gebäudes sind nicht mehr unter der Kontrolle der Sicherheitskräfte. Ganze 26 Minuten lässt Donald Trump nach dem Eindringen der ersten seiner Anhänger verstreichen, bevor er sie wenigstens auffordert, friedlich zu bleiben. Er befiehlt ihnen aber nicht, sich aus dem Capitol zurückzuziehen. Wie es in dem bisher letzten Hearing an diesem Donnerstag hiess, telefoniert er stattdessen zweimal mit seinem Kampagnenanwalt Rudy Giuliani und versucht mehrere republikanische Senatoren zu überreden, die Bestätigung des Wahlergebnisses im Capitol zu verhindern. Erst um 16.17 Uhr veröffentlicht er ein Video, in dem er seine Fans anweist, nach Hause zu gehen. «Thank you!», hängt er hinten an. 187 Minuten lang nimmt sein Mob das Parlamentsgebäude in Beschlag und verhindert damit die zeremonielle Bestätigung der Wahl von Joe Biden im Kongress.
Dabei hatten alle auf Trump eingeredet, er müsse der Gewalt Einhalt gebieten; zumindest stellten es mehrere Zeugen bei den Anhörungen übereinstimmend so dar: Von Tochter Ivanka bis zu Rechtsberater Pat Cipollone wollen sie ihm alle geraten haben, seine Leute zurückzurufen. Hat er sich bewusst geweigert, seine Minister für Verteidigung, Homeland Security und die Geheimdienste anzurufen, wie der Ausschuss bei den Anhörungen darlegte?
16.20 Uhr: Jedenfalls ist es nicht Donald Trumps Verdienst, dass schliesslich die Nationalgarde vor dem Capitol auffährt, das Gebäude zu räumen beginnt und die Voraussetzungen dafür schafft, dass der Kongress seine verfassungsmässige Aufgabe der Wahlfeststellung wieder aufnehmen kann.
20 Uhr: Vizepräsident Mike Pence setzt die Zeremonie fort, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl wird bestätigt.
Er wollte keine Niederlage akzeptieren
Selbst am anderen Morgen aber wollte Trump seine Niederlage nicht akzeptieren. Entwürfe einer Rede vom 7. Januar zeigen, dass er sich auch dann noch schwertat, die Gewalt vom Vortag zu verurteilen. In einer unbearbeiteten Videoaufnahme dieser Rede, die nun veröffentlicht wurde, weigert er sich, zu sagen: «Die Wahl ist vorbei.» Der Ausschuss präsentierte diese Hinweise beim vorläufig letzten Hearing vom 21. Juli als weitere Indizien dafür, dass Donald Trump die Gewalt am 6. Januar 2021 nicht nur in Kauf nahm, sondern bewusst geschürt hatte. Und dass er erst bereit war, auf sie zu verzichten, als ihm klar wurde, dass er auch damit sein Ziel nicht erreichen würde. «Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass er einem Mob befahl, zum Capitol zu marschieren und zu versuchen, die friedliche Machtübergabe zu verhindern – einem Mob, von dem er wusste, dass er schwer bewaffnet, gewalttätig und wütend war», sagte der Ausschussvorsitzende Bennie Thompson am Donnerstagabend. «Der Ausschuss hat die Geschichte eines Präsidenten erzählt, der alles in seiner Macht Stehende tat, um eine Wahl umzustossen. Er hat gelogen, er hat eingeschüchtert, er hat seinen Amtseid verraten.»
Ob er 2024 erneut versuchen wird, ein Wahlergebnis zu seinen Gunsten zu erreichen? Noch vor den Zwischenwahlen vom Herbst könnte er eine neuerliche Präsidentschaftskandidatur ankündigen, ventilierte sein Umfeld jüngst nach aussen. Trump verspricht sich von dem Kandidatenstatus besseren Schutz vor einer möglichen Strafverfolgung. Das Ende der vorläufigen politischen Aufarbeitung in den Kongress-Hearings ist aber keineswegs das Ende der Untersuchungen: Auch das Justizministerium sammelt Material über Donald Trump und den 6. Januar 2021. Es wäre zuständig dafür, gegen den früheren Präsidenten Anklage zu erheben. Noch aber scheut Justizminister Merrick Garland vor einer klaren Ansage zurück; noch ist offenbar nicht klar, ob die bisherigen Indizien reichen würden, um Trump zu verurteilen.
Immerhin aber hat sich eine Gruppe von Republikanern und Demokraten im Senat diese Woche auf eine Minimalreform des Electoral Count Act verständigt: Das Gesetz, dessen unklare Wortwahl Trump auszunutzen versuchte, soll nun wasserdicht formuliert werden. Würden Trumps Fans erneut versuchen zu putschen, hätten sie also noch eine Barriere mehr zu überwinden als 2021.
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