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Gastbeitrag des chinesischen Botschafters WU Ken in der Berliner Zeitung:„Gegenseitige Achtung der Kerninteressen“
 2024-05-20 14:20

„Gegenseitige Achtung

der Kerninteressen“

Wie echtes De-Risking in den chinesisch-europäischen

Beziehungen gelingen kann. Ein Gastbeitrag des chinesischen Botschafters

WU KEN

Vor gut zwei Jahren habe ich an dieser Stelle schon einmal einen Beitrag verfasst. Damals warnte ich vor einer unsichtbaren Berliner Mauer in den internationalen Beziehungen, mahnte, dass die globalisierte Welt mehr Brücken- statt Mauerbauer braucht. Mit dem Ende der Pandemie und der allmählichen Wiederaufnahme des grenzüberschreitenden direkten Kontakts kommt auch Chinas Austausch mit Deutschland und Europa in allen Bereichen und auf allen Ebenen wieder in Gang, was mich außerordentlich freut. Die Stimmen der Vernunft in Europa, die sich gegen ideologische Konfrontation und Entkopplung und für eine Zusammenarbeit Deutschlands und Europas mit China aussprechen, werden derzeit immer lauter. Nach der erfolgreichen neuen Runde der chinesisch-deutschen Regierungskonsultationen in Berlin im vergangenen Juni war Bundeskanzler Scholz vergangenen Monat zum zweiten Mal in seiner Amtszeit zu Gast in China.

Begleitet wurde er von einigen Bundesministern und einer Delegation wichtiger Wirtschaftsvertreter. Vergangene Woche dann stattete Chinas Staatspräsident Xi Jinping Frankreich, Serbien und Ungarn einen gelungenen Staatsbesuch ab. Er traf dabei auch mit Führungspersönlichkeiten der EU zu Gesprächen zusammen und setzte neue kraftvolle Impulse zur weiteren Förderung von Austausch und Zusammenarbeit zwischen China und der EU in allen Bereichen. Staatspräsident Xi Jinping hob bei seinem Frankreichbesuch die starke innere Dynamik und den großen Entwicklungsspielraum der chinesisch-europäischen Beziehungen hervor. Unsere Welt ist gerade in eine neue Phase der Turbulenzen und des Wandels eingetreten. Vor diesem Hintergrund sollten China und die EU an ihrer Positionierung als Partner sowie an Dialog und Zusammenarbeit festhalten, sollten einander fördern und gemeinsame Entwicklung suchen.

Leider muss man auch zugeben: Seit gut zwei Jahren gestaltet sich die internationale Lage immer unübersichtlicher und vertrackter. Das hat auch die Komplexität und Unsicherheiten in Chinas Beziehungen zu Europa und Deutschland gemehrt. Einige Vertreter politischer Eliten in bestimmten westlichen Ländern klammern sich in diesen Zeiten an ideologische Konfrontation und das Denken des Kalten Krieges. Vergeblich versuchen sie, eine neue Berliner Mauer zwischen Ost und West zu errichten. Ideologische Voreingenommenheit und politische Korrektheit dienen ihnen als Messlatte zur Abwägung von Risiken. Unter dem Vorwand des sogenannten De-Risking politisieren sie die normale Wirtschafts- und Handelskooperation sowie auch den Wissenschafts- und Bildungsaustausch und verknüpfen diese mit Sicherheitsfragen. Damit legen sie der Entwicklung der chinesisch-europäischen sowie auch der chinesisch-deutschen Beziehungen Steine in den Weg, höhlen die Zusammenarbeit gar aus.

Auch in Europa und Deutschland gibt es Stimmen, die bei Handel, Investitionen und Lieferketten übermäßige Abhängigkeiten von China wähnen und dies als Risiko einordnen. Doch wie ich bereits mehrfach bei verschiedenen Anlässen betont habe: Abhängigkeit ist nie einseitig. Eine fragmentierte Weltwirtschaft wird dem europäischen Wohlstand nur schaden und letztlich noch größere Unsicherheit schaffen. Wenn China in einigen Bereichen dem Aufbau unabhängiger Kapazitäten mehr Aufmerksamkeit schenkt, dann nur deshalb, weil einige westliche Länder Lieferbeschränkungen und Handelsverbote gegen China erlassen haben. Man hat uns quasi gezwungen, zu reagieren. Aus eigenem Antrieb hat China nie Anstrengungen unternommen, sich wirtschaftlich vom Westen abzukoppeln. Hier liegt auch der grundlegende Unterschied zum De-Risking, das einige westliche Politiker derzeit propagieren. Meines Erachtens verbinden China, Deutschland und Europa letztlich das gemeinsame Interesse und die gemeinsame Verantwortung, eine gleichberechtigte und geordnete multipolare Welt und eine integrative Globalisierung zu schaffen.

Die Ukrainekrise hat dem europäischen Sicherheitsverständnis einen schweren Schlag versetzt. Diese Tragödie sollte Europa und die Welt wach rütteln, weitere geopolitische Konflikte zu entschärfen und zu vermeiden, statt bei geopolitischen Spannungen künstlich Öl ins Feuer zu gießen. Einige politische Akteure mit Hintergedanken befeuern allerdings das Narrativ „Heute die Ukraine, morgen Taiwan“ und führen dabei nichts Gutes im Schilde. Vorgeblich geht es ihnen darum, die Stabilität in der Taiwanstraße zu wahren und eine Änderung des Status quo zu verhindern. Doch der tatsächliche Status quo in der Taiwanfrage ist, dass beide Seiten der Meerenge zu ein und demselben China gehören. Taiwan war nie ein unabhängiges Land. Mit der Beibehaltung des Status quo meinen solche Leute am Ende nichts anderes als die Aufrechterhaltung der Teilung Chinas. Nur traut man sich nicht, diese Absicht öffentlich so zu benennen.

Tatsache ist: Die Souveränität und territoriale Integrität Chinas waren nie geteilt, auch wenn Chinas vollständige Wiedervereinigung noch ausstehen mag. Eine Reihe völkerrechtlicher Dokumente, allen voran die Kairoer Erklärung und die Potsdamer Erklärung, haben nach dem Zweiten Weltkrieg Chinas unbestrittene Souveränität über Taiwan bekräftigt. Dies gibt China die Legitimität und Rechtmäßigkeit im Sinne des Völkerrechtes, sich Bestrebungen nach einer Unabhängigkeit Taiwans zu widersetzen und seine Souveränität und territoriale Integrität mit allen erforderlichen Mitteln zu schützen. 1971 verabschiedete die UN-Generalversammlung die Resolution 2758, mit der die Frage der Vertretung ganz Chinas, einschließlich Taiwans, in den Vereinten Nationen politisch, rechtlich und verfahrenstechnisch ein für alle Mal geklärt wurde. Auch dieses Dokument bestätigt, dass Taiwan ein Teil Chinas ist.

Das Ein-China-Prinzip ist allgemeiner internationaler Konsens und eine grundlegende Norm in den internationalen Beziehungen. Alle Seiten, einschließlich der EU und ihrer Mitgliedstaaten, haben sich gegenüber China und der Welt wiederholt in verschiedener offizieller Form klar zur Ein-China-Politik bekannt, so etwa in gemeinsamen Kommuniqués und Erklärungen. Um geopolitischer Vorteile willen aber zögern politische Akteure in manchen westlichen Ländern seit einigen Jahren nicht, Taiwaner Separatisten bei ihren riskanten Provokationen zu unterstützen. Durch eine sogenannte eigenständige Neuauslegung der Ein-China-Politik versuchen solche Akteure, das Ein-China-Prinzip aufzuweichen bzw. auszuhöhlen. Erst jüngst haben Beamte des US-Außenministeriums um Mark Lambert sowie einige Institutionen, darunter der German Marshall Fund, sogar versucht, die Geschichte bewusst zu verfälschen, indem sie die 1971 verabschiedete Resolution 2758 absichtlich umdeuten. Sie propagieren die These, dass Taiwans Status ungeklärt sei und fechten damit den Ein-China-Konsens der internationalen Gemeinschaft an. Dieser Verrat an der Geschichte und die Negierung der internationalen Nachkriegsordnung ist letztlich die größte Gefahrenquelle für die Stabilität in der Taiwanstraße.

Der Ausgang der Wahlen in Taiwan hat nichts an der Tatsache geändert, dass Taiwan ein Teil Chinas ist und es nur ein einziges China auf der Welt gibt. Er ändert auch nichts am Ein-China-Prinzip als allgemeinem internationalen Konsens, und erst recht nichts am historischen Entwicklungstrend, der auf eine Wiedervereinigung Chinas hinausläuft. In der Frage der nationalen Einheit gab es faktisch nie eine zweite Option. Unser Land strebt nach wie vor mit größter Aufrichtigkeit und Anstrengung die Aussicht auf eine friedliche Wiedervereinigung des Vaterlandes an. Um die Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans und Einmischungen von außen zu unterbinden, werden wir auch nie versprechen, auf Gewalt als letztes Mittel für den Schutz unserer territorialen Integrität und Souveränität zu verzichten, sodass die friedliche Wiedervereinigung zu einer realen Möglichkeit wird.

Wenn Europa ernsthaft an Chinas Zusammenführung mit friedlichen Mitteln gelegen ist und man verhindern will, dass die Taiwanstraße zu einem neuen geopolitischen Risiko wird, sollte die EU konsequent und tatkräftig an ihrer Verpflichtung zur Ein-China-Politik festhalten. Sie sollte sich nicht auf die Seite von Akteuren stellen, die eine Unabhängigkeit Taiwans anvisieren, geschweige denn bestimmten westlichen Ländern folgen, die die Taiwanfrage für die Eindämmung Chinas instrumentalisieren. Das ist meines Erachtens, worum es beim viel zitierten De-Risking eigentlich gehen sollte. In diesem Zusammenhang möchte ich auch einzelnen deutschen Politikern raten, nicht so naiv zu sein zu glauben, dass Chinas Wiedervereinigungsprozess sich durch die Entsendung einiger Kriegsschiffe durch die Meerenge ausbremsen ließe.

Bei seinem Treffen mit Präsident Macron und der Präsidentin der EU-Kommission von der Leyen während seines Frankreichbesuchs hat Staatspräsident Xi Jinping betont, dass China und Europa die Kerninteressen und Hauptanliegen des anderen respektieren sollten. Er forderte dazu auf, die politische Grundlage der Beziehungen zwischen China und der EU sowie die grundlegenden Normen der internationalen Beziehungen zu wahren. Gleiches gilt auch für die Zusammenarbeit zwischen China und Deutschland. Gegenseitige Achtung der Kerninteressen und Hauptanliegen – das ist es doch, worauf es bei einer umfassenden strategischen Partnerschaft ankommt. Wie zwischen Asien und Europa braucht es auch auf dem weiten Pazifik mehr Brücken, die uns verbinden, statt Kriegsschiffe und Kanonen aus der Ferne. Ich hoffe und bin überzeugt, dass die deutsche Seite weiterhin am Ein-China-Prinzip festhalten und gemeinsam mit China das Fundament für die Entwicklung der chinesisch-deutschen Beziehungen festigen wird. Lassen Sie uns gemeinsam konstruktive Beiträge leisten, nicht nur zum Frieden in der Taiwanstraße, sondern auch zu Stabilität und Wohlstand in der Asien-Pazifik-Region und in aller Welt. Denn dies liegt im Interesse aller Beteiligten, einschließlich Chinas und Deutschlands.


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